„Cybergrooming“ – fast keine Lösung
Der Deutsche Bundestag hat mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und AfD den Versuchstatbestand des „Cybergrooming“ auch auf alle Fälle ausgeweitet, in denen kein Kind involviert ist. Damit wird der Versuchstatbestand nicht nur bis in den Bereich des Gefahrenabwehr- und Polizeirechts ausgeweitet, sondern es werden wieder viele positive Möglichkeiten für Prävention und Intervention ignoriert. Eine Gastkolumne von Christian Unger
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Unter Cybergrooming versteht man in Deutschland das Ansprechen von Kindern und Jugendlichen in Chats, Online-Foren und anderenorts im Internet mit dem Ziel des sexuellen Missbrauchs, wobei dieser sowohl online als auch offline stattfinden kann. Häufig werden dabei auch Bild- und Videoaufnahmen gemacht und diese ins Internet gestellt. Insbesondere im angloamerikanischen Raum werden auch Erwachsene als potenzielle Opfer gesehen – eine Ansicht, die ich durchaus teile, auch wenn das Themenfeld hierbei natürlich anders gelagert ist.
Mit dem Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Versuchsstrafbarkeit des Cybergroomings hat der Deutsche Bundestag beschlossen, dass der Versuch dazu auch dann strafbar ist, wenn kein Kind angesprochen wird, sondern zum Beispiel ein Ermittler. FDP, Grüne und Linke lehnen das ab. Zwar ist offensichtlich, dass jemand, der irrig denkt, er spreche mit dieser sexuellen Motivation ein Kind an, eine reale Gefahr darstellt. Dennoch dient Strafrecht dem Schutz von Rechtsgütern, welches hierbei eben weder verletzt noch gefährdet wird. Damit gehört ein solcher Fall in den Bereich des Gefahrenabwehr- und Polizeirecht, wo ebenfalls effektive Methoden zur Verfügung stehen.
Da ebenfalls beschlossen wurde, dass Ermittler die sogenannte „Keuchheitsprobe“ mit computergenierten Bildern machen dürfen, haben sich die FDP, Grüne und Linke enthalten. Zwar wurden Bauchschmerzen dabei angemeldet, da damit wirklichkeitsnahe und sehr realistische Bilder erstellt werden, welche ebenfalls strafbar sind und sich diese mit gewisser Wahrscheinlichkeit im Internet verbreiten. Aber nur damit können die Ermittlungsbehörden in viele einschlägige Foren vordringen und direkt bei den Tätern ermitteln. Wenn der Staat zum Kinderpornoproduzenten wird und dafür sorgt, dass die Zahl dieses Materials im Internet zunimmt, bekomme ich nicht nur Bauchschmerzen, sondern massive Bauchkrämpfe. Daher sollte die Zahl dieser Maßnahmen und der Erfolg genau evaluiert werden. Es muss die Ultima Ratio sein und kein Standardmittel polizeilicher Arbeit.
Von Prävention wird nur gesprochen
Zwar spricht nicht nur die demokratische Opposition, sondern auch Teile der Regierungsfraktionen von Prävention. Jeder Fall, der verhindert wird, muss weder aufgeklärt noch bestraft werden, wenn Opfer und Täter gar nicht erst entstehen, muss man sich auch dort nicht mit den Folgen beschäftigen. Dabei wird allerdings allein auf Bundesmittel verwiesen, die für die aktuelle täterorientierte Prävention („Kein Täter werden“, Charité Berlin und wenige andere Einrichtungen) verwendet werden.
Dieses Projekt ist zwar zu begrüßen und grundsätzlich positiv zu bewerten. Es reicht aber schlichtweg nicht. Das hat gleich mehrere Gründe. Als erstes muss es für die potenziellen Klienten erreichbar sein. Wer allerdings für eine einzige Therapiesitzung fast durch halb Deutschland fahren muss, muss dafür sowohl Zeit auch als das Geld haben. Die Zahl der Plätze ist zudem begrenzt. Und letztlich muss auch gesagt werden, dass Personen mit pädophiler Neigung eine verständliche Scham und Angst aufweisen – vor allem wenn der Staat als Finanzier auftritt.
Der zweite große Grund ist, dass auch bei der Debatte im Bundestag zahlreiche Redner allein von „Pädophilen“ redeten. Dabei werden allerdings auch Jugendliche Opfer von Cybergrooming, welche durch die Änderungen überhaupt nicht beachtet werden. Jugendliche sind für Pädophile sexuell schlichtweg nicht interessant. Zweitens und noch wichtiger ist, dass die Mehrheit der Täter beim sexuellen Missbrauch von Kindern nicht pädophil ist. Je nach Definition (streng medizinisch vs. Psychosozial-medizinisch) und Datengrundlage liegt der Anteil von heterosexuellen und/oder homosexuellen Tätern, seltener auch Sadisten, bei 50 bis 95%. Die Tatmotivation kann, muss aber nicht dieselbe wie bei Pädophilen sein. Oft ist eine Sexualstraftat Mittel zum Zweck, beispielsweise weil der Täter Macht ausüben will. Die sexuelle Befriedigung spielt dabei keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Diese größte Tätergruppe wird auch ignoriert.
Besondere Lösung für ein besonderes Problem
Pädophile als Täter sind aber ein gesondertes Problem. Ihre Rückfallquote ist signifikant höher und bei ihnen besteht das Problem, dass sie sich sexuell nicht durch Erwachsene angesprochen fühlen. Eine umfassende Beziehung mit einer gleichaltrigen Person fällt also flach – ein Leben lang. Sie sind damit eine besondere potenzielle Tätergruppe, die auch durchaus besonders behandelt gehören.
Als ich vor inzwischen über zehn Jahren vorschlug, dass Pädophile generell eine entsprechende Behandlung bei jedem Psychotherapeuten oder Psychiater erhalten können, welche als Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird, antwortete mir die Mehrheit des Deutschen Bundestages, dass sie keinen Nachbesserungsbedarf sehen würde. Eine entsprechende Therapie könne bereits als Kassenleistung bezahlt werden.
Das ist zwar so. Das Problem dabei ist das Wörtchen „könne“. Ein Magdeburger Sexualtherapeut sagte mir dazu, dass man es „zwar versuchen“ könne. Es sei allerdings immer eine Entscheidung des Sachbearbeiters und die Entscheidungen dazu sehr unterschiedlich. Die deutliche Mehrheit der Fälle wird nicht als Kassenleistung bezahlt. Eine echte Pflicht besteht also nicht, wie mir auch andere Experten bestätigten. Eine Übernahme als Kassenleistung muss also klar geregelt werden. Die CDU hat Anfang 2015 dann zwar meine Meinung auch endlich übernommen, doch obwohl sie seitdem durchgängig in der Regierung war, gab es dazu nicht einen Antrag oder Gesetzentwurf. Scheinbar hat man das Thema also wieder vergessen. Das ist schade, immerhin wäre damit viel zu erreichen.
Experten fehlen – teilweise, weil sie fehlen wollen
Sexualtherapeutinnen und Sexualtherapeuten sind relativ selten. Sie besitzen in der Regel eine psychotherapeutische oder psychiatrische Ausbildung, haben also ein Psychologie- bzw. Medizinstudium und eine entsprechende Weiterbildung bzw. Facharztausbildung absolviert. Zwar werden dabei gewisse sexualwissenschaftliche Kenntnisse vermittelt, ausreichend sind diese allerdings nicht. Verschiedene Organisationen wie die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung bieten daher Weiterbildungen in diesem Bereich an, die mehr oder weniger umfangreich sind. Die DGfS vermittelt in 200 Stunden eine breite Wissensbasis, die auch die sogenannten „Paraphilien“ (und damit Pädophile) mit umfassen. Sowohl eine klar geregelte sexualtherapeutische Ausbildung wie auch ein sexualwissenschaftlich fundiertes Grundstudium fehlen in Deutschland – wer Sexualwissenschaft studieren will geht in die USA oder ins europäische Ausland.
Dem Mutterland der Sexualwissenschaft fehlt es an echtem Interesse am Thema Sexualwissenschaft. Ein Berliner Senator, den ich hier nicht namentlich nennen will, hat gegenüber einem sehr ehrenwerten Sexualwissenschaftler einmal gesagt: „Wer sich mit Sexualwissenschaft beschäftigt, hat selber ein Problem mit seiner Sexualität!“ Zu Beginnen der Sexualwissenschaft beschäftigten sich vor allem jüdischen Ärzte mit dem Thema, während sehr vielen nicht-jüdischen Kollegen das Thema „zu schmutzig“ war. Die Begründer der modernen Sexualwissenschaft Iwan Bloch, Albert Moll und Magnus Hirschfeld waren nicht nur alles deutsche Ärzte – alle waren auch Juden.
Nicht nur, dass es scheinbar in einigen politischen Kreisen bis heute als „schmutzig“ gilt, als Sexualwissenschaftler oder -therapeut zu arbeiten, auch die eigentlichen Experten erfüllen nicht immer die besten Ideale. Erwin J. Haeberle als sehr prominenter Vertreter kritisierte sein eigenes Fachgebiet, in dem er feststellte, dass die Sexualwissenschaft eine Wissenschaft der Ideen sei, leider allzu oft der „dummen Ideen“. Bis heute lassen sich Sexualwissenschaftler zu oft von moralischen Mehrheitsansichten leiten. Es ist auch keine Seltenheit, dass ein Pädophiler mit teils üblen Beschimpfungen bei einem Therapeuten abgelehnt wird. Mit so etwas wolle man nichts zu tun haben. Für mich ist dabei ganz klar: Wer einen Patienten ablehnt, der Hilfe benötigt, sollte sich überlegen, ob er den richtigen Beruf ergriffen hat.
Ein Blick ins Strafrecht
Bei der jetzigen Gesetzesänderung wurden viele Themenfelder völlig ignoriert und nur einige Stellschrauben im Strafrecht gedreht. Das passiert immer wieder und immer wieder sieht sich die Politik, insbesondere CDU, CSU und SPD scheinbar gezwungen, Änderungen am Strafrecht besonders schnell und am liebsten direkt vor Wahlen durchzuführen. Häufig sind es einzelne Taten, die dazu führen, dass Politiker in schnellen Aktionismus verfallen. Fachliche Qualität bleibt dabei oft auf der Strecke.
Durch populistische Schnellschüsse hat man inzwischen erreicht, dass Wiederholungstäter theoretisch weniger hart zu bestrafen sind als Ersttäter. Nach § 176 Abs. 4 Var. 1 StGB ist ein sexueller Missbrauch von Kindern mit einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren zu bestrafen, wenn der Grundtatbestand erfüllt wird, innerhalb der letzten fünf Jahre bereits wegen einer solchen Tat eine Verurteilung erfolgte sowie ein minderschwerer Fall vorliegt. Allerdings hat der Deutsche Bundestag die Strafandrohung beim Grundtatbestand erhöht und den minderschweren Fall gestrichen. Ein Ersttäter wird also, wenn er keine sonstige Qualifikation erfüllt, mit einer höheren Strafe – 6 Monate bis zu 10 Jahren – bestraft als der Wiederholungstäter.
Diese irrwitzige Gesetzgebung habe ich ebenfalls kritisiert – und von der Mehrheit im Bundestag eine ebenso verstörende Antwort bekommen, wie schon einige Jahre zuvor zur Therapie als Kassenleistung. Denn ein Problem sah man nicht. Nach einer Fachexpertise einer Richterin am Bundesgerichtshof würden die Gerichte das entsprechend beachten. Die Frage dazu ist allerdings: Dürfen sie das überhaupt? Wenn es selbst geringe Anzeichen auf einen minderschweren Fall gibt, muss dieses auch durchsubsumiert und im Urteil die detaillierte Begründung dazu abgegeben werden. Wird dies nicht gemacht, ist dies bei vielen Delikten ein regelmäßiger – und aussichtsreicher – Revisionsgrund. Zwar sind die Richterinnen und Richter auch verpflichtet, den hinter den Gesetzen stehenden Willen des Gesetzgebers zu beachten und bei der Rechtsauslegung entsprechend zu interpretieren. Ich zweifele allerdings daran, dass dies soweit gehen kann, dass komplette Absätze völlig ignoriert werden. Wenn auf einen minderschweren Fall erkannt werden muss, kann man zwar die gegenüber den Grundtatbestand geringere Mindeststrafe entsprechend ignorieren – bei der Höchststrafe geht das aber wiederrum nicht. Auch hier hat der Deutsche Bundestag erneut die Möglichkeit der Nachbesserung verstreichen lassen.
Gerichte machen es sich oft aus gutem Grund zu einfach
Im Bereich des Strafrechts wird allerdings nicht nur definiert, welche Handlungen strafbar sind und wie sie zu bestrafen sind. Wie es denn überhaupt zu dieser Strafe kommt, ist einer der elementaren Punkte des Strafrechts. Damit eine Handlung bestraft wird, muss sie drei Punkte erfüllen: Tathandlung, Rechtswidrigkeit und (zumindest verminderte) Schuldfähigkeit. Diese Punkte werden aktuell und ganz selbstverständlich im Verfahren behandelt und vom Gericht gemeinsam beurteilt.
Um die individuelle Schuld wie auch die Schuldfähigkeit zu betrachten, ist selbst bei geringem Verdacht auf eine zumindest verminderte Schuldfähigkeit ein psychiatrisches Gutachten nötig, welches dann vom Gericht entsprechend zu bewerten ist. Um ein psychiatrisches Gutachten zu erstellen, ist die Mithilfe des Angeklagten natürlich erforderlich. Dieser muss, sowohl gegenüber der Polizei und Staatsanwaltschaft als auch gegenüber dem Gericht und dem Gutachter aber nichts sagen außer den persönlichen Daten. Er darf sogar nach Strich und Faden Lügen. Dasselbe gilt natürlich auch gegenüber seinem Strafverteidiger. Ob er das machen sollte, ist wieder eine andere Frage. Nichts sagen sollte man schlechten Lügen – und gegenüber erfahrenen und fachkundigen Strafverfolgern, Richtern, Gutachtern und Strafverteidigern ist fast jede Lüge schlecht – immer vorziehen. Häufig sollte man Nichtssagen übrigens auch der Wahrheit vorziehen, selbst wenn man nichts verbrochen hat. Das ist aber ein anderes Thema.
Ein psychiatrisches Gutachten kann jedenfalls nur dann erfolgreich sein, wenn der Beschuldigte sich sicher sein kann, dass es bei den Punkten „Tathandlung“ und „Rechtswidrigkeit“ nicht gegen ihn verwendet wird. Insbesondere wenn er schuldig ist, aber die Tat nicht einfach nachweisbar ist, hat er ein Interesse daran, die Tat gegenüber dem Gutachter nicht zuzugeben. Ein solches Gutachten ist aber sinnlos. Dabei kann ein psychiatrisches Gutachten nicht nur wichtige Hinweise bezüglich Schuld und Schuldfähigkeit liefern, sondern auch darüber hinaus, wie mit dem Täter umzugehen ist. Personen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörung (nicht: Schizophrenie) sind im Regelfall voll schuldfähig, auch wenn sie wegen ihrer Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen häufig unvorstellbare Straftaten begehen, ohne dass die Gruppe der Schizoiden eine generell signifikant erhöhte Straffälligkeit aufweist. Ein heterosexueller Täter, der vielleicht Beziehungsängste hat und sich das einfachste Opfer genommen hat, ist anders zu behandeln als ein pädophiler Täter.
Deshalb sollte das Strafverfahren aufgeteilt werden. Zunächst sind die Tat und die Rechtswidrigkeit festzustellen, erst im zweiten Abschnitt die Schuldfähigkeit und Schuld, sofern ein psychiatrisches Gutachten angefertigt wurde. Bei Sexualstraftaten und eventuell auch bei weiteren Straftaten, sollte ein psychiatrisches Gutachten immer angefertigt werden. Nur mit den gewonnenen Informationen kann nicht nur die Schuldfähigkeit festgestellt werden, sondern rechtzeitig auch, ob weitere Maßnahmen neben einer Strafhaft angeordnet werden müssen. Das kann sowohl eine rechtzeitige, ausreichende und zielreichende Therapie in der JVA sein, aber auch bis zur Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik neben der Strafhaft sein oder nur eine spezielle Therapie als Bewährungsauflage. So lassen sich auch viele Wiederholungstaten vermeiden. Die Rückfallquote bei therapierten Sexualstraftätern ist halb so hoch wie bei untherapierten Personen derselben Deliktsgruppe. Das sollten wir nutzen und verbessern.
Was bestraft werden soll, muss erstmal aufgedeckt werden
Die immer weitere Ausweitung der Sexualstraftaten auf neue Deliktsbereiche – versuchtes Cybergrooming ohne Opfer ist da nur ein Beispiel – und immer höhere Strafen ignorieren einen Umstand völlig – und damit möchte ich dann auch zum Schluß des umfassenden Themenkomplex kommen, liebe Leserinnen und Leser. Sie dürfen sich aber sicher sein, dass es noch mehr gibt. Aber die Feststellung, dass Straftaten, die bestraft werden sollen, erst aufgedeckt werden müssen, ist irgendwo eine Selbstverständlichkeit. Dennoch wird auch diese vehement ignoriert.
Die SPD Bayern möchte, dass die Verjährungsfrist beim sexuellen Missbrauch von Kindern komplett aufgehoben wird. Dieses Thema wurde immer wieder mal angebracht, teilweise sogar in den Bundestag eingebracht, auch durch die SPD getragen. In der fachlichen Auseinandersetzung haben dann aber sowohl die Sozialdemokraten wie auch die Christdemokraten Vernunft gezeigt und das Thema fallen lassen. Denn eine solche Aufhebung widerspricht schlichtweg jeder Vernunft. Bereits heute haben wir eine sehr hohe Verjährungsfrist von 10 Jahren, die erst anfängt, wenn das Opfer das 30. Lebensjahr vollendet wird. Bis zur Vollendung des 40. Lebensjahr hat das Opfer also Zeit, eine Straftat anzuzeigen. Bereits heute führt diese lange Zeit dazu, dass extrem viele Verfahren eingestellt werden oder mit einem Freispruch enden. Denn eine Straftat muss natürlich zweifelsfrei nachgewiesen werden – wofür es nach so langer Zeit keine forensischen Beweise gibt und Aussage gegen Aussage steht. Da nach vielen Jahren die Erinnerungen schwinden, ist ein zweifelsfreier Nachweis sehr häufig nicht mehr möglich.
Ziel müsste sein, dass Sexualstraftaten unverzüglich angezeigt und verfolgt werden. Da Kinder oft im engsten familiären Umfeld missbraucht werden, sind regelmäßige zwingende Vorsorgeuntersuchungen zu unterstützen. Dennoch ist hier eine Aufklärung immer besonders schwer. Aber auch bei erwachsenen Opfern muss man sich fragen, wie die Situation verbessert werden kann. Auch im Jahr 2020 werden viele Frauen – seltener auch Männer – nach einer Tat nach Hause gehen, Beweise vernichten und entweder erst verspätet oder häufig sogar gar nicht die Sache anzeigen. Warum Opfer das tun ist bekannt und nachvollziehbar, sie trifft dafür also auch absolut keine Schuld. Dennoch sind Gesellschaft und Staat verpflichtet, an dieser Situation etwas zu ändern. Wenn Opfer direkt zur Polizei gehen, können sofort wichtige Spuren wie Sperma oder Fasern beim Opfer gesichert werden. Es braucht genug Strafverfolger, Staatsanwälte und Richter, damit die Täter schnell ermittelt und dort Beweismittel sichergestellt werden können, beispielsweise Erdanhaftungen an Knien und Unterarmen bei einer überfallartigen Vergewaltigung im Park. Nur so kann ein sexueller Kontakt zwischen Opfer und Täter nachgewiesen, nur so kann eine Verbindung zwischen Täter und Tatort dank moderner forensischer Mittel nachgewiesen werden. Ein Täter kann sich so nicht damit herausreden, dass er das Opfer noch nie gesehen hat und noch nie am Tatort war. Nur so haben Gerichte mehr Möglichkeiten, als sich nur auf die Aussage des Opfers und des Angeklagten verlassen zu müssen und eine schwierige Entscheidung zu treffen, die eben oft nicht zu treffen ist. Statt Verjährungsfristen immer weiter anzuheben und so nur zu erreichen, dass die Einstellungs- und Freispruchquote über alle Maße steigt, müssen Opfer in die Lage versetzt werden, eine Tat möglichst unverzüglich oder wenigstens noch bei frischen Erinnerungen anzuzeigen.
Sind Prävention und Intervention nun noch zu retten?
Leider hat der Deutsche Bundestag eine weitere Möglichkeit verstreichen lassen, effektiv gegen Sexualstraftaten vorzugehen. Eine Straftat, die es nicht gibt, muss nicht aufgeklärt werden. Nur eine Straftat, die auch aufgeklärt wird, kann strafrechtlich verfolgt werden. All dies wird nachwievor stiefmütterlich behandelt und sich allein auf das Strafen verlassen. Das wird an der Gesamtzahl der Straftaten in diesem Bereich absolut nichts ändern.
Diese Kolumne soll nur einen Überblick über einige Themengebiete geben. Zahlreiche andere können hierbei noch erwähnt werden und müssen auch erwähnt werden, weil sie ebenfalls wichtig sind. Aus Platzgründen können hier aber auch nicht alle wichtigen Dinge Erwähnung finden. Fakt ist und bleibt, dass Populismus der schlechteste Ratgeber ist.
Wir können stolz darauf sein, dass wir heute im sichersten Deutschland aller Zeiten leben, auch wenn einzelne Fälle von Serien- und Massentätern wie Niels H. und Andreas L. die Statistik immer wieder nach oben treiben. Ein Staat kann niemals alle Straftaten verhindern. Dennoch sind wir noch nicht am Ziel. In Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen und in denen selbst wirkungslose Homöopathie auf Kassenleistung möglich ist, wäre der Schritt für eine breitangelegte Therapiemöglichkeit der erste von vielen möglichen, effektiven und menschenwürdigen Schritten.
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