Kinderrechte ins Grundgesetz?

Die UN-Kinderrechtekonvention wurde am 20. November dreißig Jahre alt. Nun sollen die Kinderrechte in unser Grundgesetz aufgenommen werden. Eine gute Idee? Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von billy cedeno auf Pixabay

Mal ganz ehrlich. Haben Sie das Übereinkommen über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen vom 20.11.1989 schon einmal gelesen? Ich gestehe, ich habe das eine Stunde, nachdem ich mich für dieses Kolumnenthema entschieden hatte, zum ersten Mal gemacht. Und ich kann Ihnen die Lektüre nur ans Herz legen. Hier finden Sie den vollständigen Text in deutscher Sprache.

Da stehen ganz tolle Sachen drin. Schon die Präambel ist entzückend. So ist das Übereinkommen unter anderem,

in der Erkenntnis, dass das Kind zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen sollte

und

in der Erwägung, dass das Kind umfassend auf ein individuelles Leben in der Gesellschaft vorbereitet und im Geist der in der Charta der Vereinten Nationen verkündeten Ideale und insbesondere im Geist des Friedens, der Würde, der Toleranz, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität erzogen werden sollte,

entstanden. Da hört man doch den hellen Glockenklang und das fröhliche Lachen all der Kinder auf der Welt. Da wird einem warm ums Herz. Nun ja. Mit der Realität von Kindern in der Welt hat das alles nicht so viel zu tun, aber es spricht ja nichts dagegen, der traurigen Realität von Millionen von Kindern eine Übereinkunft entgegenzusetzen. Kann ja sein, dass man damit irgendetwas Gutes für Kinder bewirkt.

Zehn Kindergrundrechte

Und es steht sehr viel Gutes in dieser Übereinkunft, die erstaunlicherweise von allen Mitglieder der UN unterschrieben wurde. UNICEF hat den ganzen Packen wohlklingender Worte einmal auf zehn Grundrechte für Kinder zusammengefasst:

Das Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung unabhängig von Religion, Herkunft und Geschlecht;

Das Recht auf einen Namen und eine Staatszugehörigkeit;

Das Recht auf Gesundheit;

Das Recht auf Bildung und Ausbildung;

Das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung;

Das Recht, sich zu informieren, sich mitzuteilen, gehört zu werden und sich zu versammeln;

Das Recht auf eine Privatsphäre und eine gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens;

Das Recht auf sofortige Hilfe in Katastrophen und Notlagen und auf Schutz vor Grausamkeit, Vernachlässigung, Ausnutzung und Verfolgung;

Das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause;

Das Recht auf Betreuung bei Behinderung.

Wer hätte nicht gerne ein Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge, ein sicheres Zuhause und Gesundheit und all die anderen schönen Dinge? Nun ist es aber immer leichter, feine Ideale zu formulieren, als die auch tatsächlich umzusetzen.

Weltweit leben rund 385 Millionen Kinder in extremer Armut, d.h. sie leben in Haushalten, in denen sie mit 1,70€ pro Person pro Tag auskommen müssen.

Da bleibt nicht viel vom Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung, da ist man vermutlich froh, wenn man überhaupt am Leben bleibt.

Unterernährung trägt jährlich und weltweit zum Tod von 3,1 Millionen Kindern unter fünf Jahren bei, was mehr als 45 % aller Sterbefälle von Kindern unter fünf Jahren entspricht (Stand 2013). Der Geist des Friedens, der Würde, der Toleranz, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität hat da keine großen Chancen, wenn es nicht einmal genug zu essen gibt.

Ekelhafter Vorbehalt

Die deutschen Delegierten bei der UN fremdelten zunächst mit der Konvention und kündigten noch 1988 an, dieser nicht zustimmen zu wollen. Später wurde dann unter dem reichlich ekelhaften Vorbehalt zugestimmt, nach denen das deutsche Ausländerrecht Vorrang vor Verpflichtungen der Konvention hat. Im Klartext bedeutete das, dass man es sich nicht nehmen lassen wollte, Kinder abzuschieben, was auch geschah. Deutschland verhängte tatsächlich neben Österreich als einziges weiteres Land in Europa Abschiebehaft gegen Kinder und Jugendliche. Allein in Hamburg befanden sich 2003 etwa 125 Minderjährige länger als drei Monate in Abschiebehaft. Erst am 15. Juli 2010 wurde dieser Vorbehalt zurückgenommen. Seitdem gibt es Art. 3 Abs. 1 der Konvention, in dem es heißt:

(1) Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

Tja, da ist es wieder. Das berühmte Kindeswohl, von dem niemand so genau weiß, wie es definiert und vor allem wie es denn ganz konkret berücksichtigt werden soll. Das kennen wir aus dem deutschen Familienrecht, in Sorgerechtsverfahren, bei Umgangsverfahren. Ungeachtet der Tatsache, dass es da regelmäßig Streit darüber gibt, was denn nun genau dem Kindeswohl entspricht, dürfte es nur wenig Widerspruch geben, dass alles Handeln dem Wohl der Kinder zu dienen hat.

Nun gibt, es solange es die Kinderrechtekonvention gibt, auch schon Bemühungen, die Rechte der Kinder ins Grundgesetz aufzunehmen. Damit würden sie wenigstens mal in Deutschland ganz unmittelbare Wirkung zugunsten der Kinder entfalten. Gleichwohl stößt diese Forderung – die nun sogar im Groko-Koalitionsvertrag vereinbart wurde – immer wieder auf Widerstände.

Kinder sind Menschen

Da sind zum einen die ganz Schlauen, die vorgeben, das Grundgesetz als schlanke Verfassung verteidigen zu wollen, weil eine solche Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz überflüssig wäre. Schließlich seien Kinder ja Menschen und damit bereits durch Art. 1 GG hinreichend berücksichtigt. Nun ja, irgendwie beruhen natürlich alle Grundrechte letztlich auf Art. 1 GG, da könnte man sich den ganzen anderen Quatsch doch schenken und sich auf eine Ein-Artikel-Verfassung verständigen, oder? Eben nicht. Denn mit den auf Art. 1 folgenden Artikeln werden nun einmal die einzelnen Grundrechte ganz konkret benannt und bekommen damit auch eine ganz konkrete Wirkung. Es ist ja richtig, dass nicht Alles und Jedes im Grundgesetz zu einem Grundrecht hochgejazzt werden muss, was man gerade so schön findet, aber die elementaren Rechte gehören nun mal in die ersten 20 Artikel.

So tauchen Kinder tatsächlich auch schon in Art. 6 GG auf:

Art 6

(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.

Sie merken bei der Lektüre, dass Art. 6 GG mit den „UNICEF-Grundrechten“ nur wenig zu tun hat?

Angst für Alle

Es gibt einen Widerstand gegen eine Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz von einer Gruppierung, die unter dem Namen „Demo für Alle“ existiert. Das ist eine Gruppe von Menschen, die sich vor allem Möglichen fürchten, und die man getrost als zum rechts-klerikalen Gesellschaftsbereich gehörig ansehen kann ohne ihren Protagonisten Unrecht zu tun. Im Belltower-Lexikon wird die Gruppierung wie folgt beschrieben:

„Homo- und transfeindliche sowie sexistische Demonstrationen zunächst gegen die Gleichstellung der gleichgeschlechtliche ‚Ehe für alle‘ mit der heterosexuellen Ehe. Auch aktiv gegen Vielfalterziehung im Kita-Bereich, die als „Frühsexualisierung“ verunglimpft wird. Organisiert werden die bundesweiten „Demos für alle“ von der christlichen Aktivistin Hedwig von Beverfoerde (u.a. aktiv in den rechtspopulistischen Organisationen „Bürgerinitiatve Familienschutz“, „Zivile Koalition“), die zum Umfeld von Beatrix von Storch (AfD) gehört. Auf den „Demos für alle“ treffen sich antimoderne Familien mit christlichen Fundamentalist*innen und Homo- und Trans-Feind*innen.“

Ob man nun Frau von Beverfoerde und ihre Mitstreiter noch wirklich als christlich bezeichnen kann, spielt hier keine Rolle. Was aber deutlich geäußert wird, so zum Beispiel von meiner früheren Kolumnisten-Kollegin beim European, Birgit Kelle, ist die Angst, dass die Aufnahme von Kindergrundrechten sich gegen die Eltern richten würden.

Kinderrechte in der Verfassung würden genau diese Selbstverständlichkeit brechen. Nicht mehr die Eltern allein, sondern der Staat selbst schwänge sich damit als Vertreter der Rechte unserer Kinder auf. Im Zweifel auch gegen die Eltern der Kinder, sollte der Staat eines Tages der Meinung sein, dass Eltern die Interessen ihrer Kinder nicht so vertreten, wie er es gerne hätte oder für richtig hält. Kinderrechte in der Verfassung taugen also im Ernstfall als handfester Keil zwischen Eltern und Kind.

Eine seltsame Auffassung von Birgit Kelle, zu meinen „die Eltern allein“ seien die Vertreter der Rechte ihrer Kinder. Das mag im Idealfall so sein, aber leider gibt es halt unzählige Fälle, in denen Eltern alles andere sind als die Vertreter der Rechte ihrer Kinder. Kinder werden eher selten von wildfremden – womöglich zugewanderten – Unholden getötet, misshandelt und missbraucht, sondern in der Mehrzahl der Fälle von ihren eigenen Eltern. Kinder werden nicht unmittelbar durch den Staat verwahrlost, sondern durch die Eltern. Kinder werden nicht durch einen bösen Staat daran gehindert, sich zu bilden, sondern von Eltern, denen die Bildung ihrer Kinder weniger wichtig ist, als der tägliche Alkohol und RTL2-Konsum. Kinder sind nicht das Eigentum ihrer Eltern. Die dürfen mit denen nicht machen, was sie wollen. Und es war schon immer die Aufgabe des Staates, unfähigen oder durchgeknallten Eltern Grenzen zu setzen, um die Kinder zu schützen.

Abs. 2 Satz 1 hebt den Vorrang der Eltern bei der Erziehung und Pflege der Kinder hervor und garantiert ihn verfassungsrechtlich; jedoch läßt schon das Wort „zuvörderst“ erkennen, daß neben den Eltern auch der Staat die Funktion eines Erziehungsträgers mit entsprechenden Pflichten hat. Darüber hinaus legt Abs. 2 Satz 2 dem Staat das Amt auf, über die Pflege und Erziehung der Kinder durch die Eltern zu wachen. Abs. 3 regelt schließlich einen speziellen Eingriff des Staates in die Pflege und Erziehung und statuiert hierfür einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt.

Wächteramt

Es ist auch jetzt bereits so, dass der Staat ein Wächteramt auszuüben hat, um diese Kinder aus den ihr Kindeswohl gefährdenden Umständen zu befreien.

Das Wächteramt des Staates (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) beruht in erster Linie auf dem Schutzbedürfnis des Kindes, dem als Grundrechtsträger eigene Menschenwürde und ein eigenes Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne des Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG zukommt.

stellte das Bundesverfassungsgericht bereits 1968 fest.

Dieses Wächteramt nimmt er mehr oder weniger erfolgreich mit überforderten Jugendämtern und Jugendhilfeeinrichtungen wahr. Dieser Staat käme gar nicht auf die Idee, einer Supermutter,- hausfrau,- autorin in ihre Erziehung hineinzureden. Dafür gibt es auch gar keinen Anlass. Aber auch die bundesdeutsche Realität ist meilenweit entfernt vom Idyll der Kelles oder dem der UN-Konvention.

Wenn, wie auch Kelle meint, bereits Art. 1 GG die Rechte der Kinder ausreichend abdeckt, was haben diese Eltern dann eigentlich zu befürchten, wenn man die o.g. Kindergrundrechte ausdrücklich benennt und damit auch für den größten Deppen, der nicht in der Lage ist, aus Art. 1 GG konkrete Rechte zu abstrahieren, lesbar macht?

Ich denke, es wäre ein gutes Signal, diese Rechte in das Grundgesetz hineinzuschreiben. Allerdings nur als ersten Schritt. Denn was helfen die schönsten Grundrechte, wenn sie in der Realität schon daran scheitern, dass in der Schule der Putz von der Decke fällt? Bevor wir die Aufnahme der Kindergrundrechte, so sie denn kommen sollte, als Riesenkracher feiern, müssen die konsequent umgesetzt werden. Und bevor wir unsere Schulen damit „verschönern“, dass wir vor jeder Schule eine Bundes-, Landes- und Europaflagge im Wind flattern lassen, sollten wir dafür sorgen, dass dieser Wind nicht ungedämmt durch die Ritzen pfeifen kann.

Viel Symbolik

Ja, die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung ist ein Gutteil Symbolik, aber das macht nichts. Viele der alten Grundrechte sind erst im Laufe der Jahre wirklich zur Entfaltung gekommen. Die Gleichberechtigung stand von Anfang an im GG, durchgesetzt wurde sie jedoch Schritt für Schritt, und ein Ende ist noch nicht abzusehen. Ohne das entsprechende Grundrecht aber müsste auch eine Birgit Kelle heute noch ihren Klaus fragen, ob er ihr erlaubt zu arbeiten. Diese Zeiten sind immerhin vorbei und mal sehen, vielleicht profitiert dann wenigstens die Generation meiner Enkel von tatsächlich existierenden Kinderrechten.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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