Der Gott des Jazz – Coltranes „Ascension“

Kolumnist Sören Heim versucht plausivel zu machen, warum Ascension unter die größten musikalischen Werke des 20. Jahrhunderts gezählt werden muss. Und warum im weiten Sinne sakrale Musik heute so zu klingen hat, und nicht etwa wie die wohlgeordnete Polyphonie Bachs.


Über Coltranes spätes Free-Jazz-Album Ascension hatte ich in meinem Beitrag über komplexe polyphone Jazzalben schon einmal berichtet, dass ich das Ganze bestimmt drei, vier oder auch fünf mal angefangen und an verschiedenen Stellen abgebrochen hatte, ehe ich es zum ersten Mal durchhören konnte – und alle Momente plötzlich an die richtigen Stellen zu fallen schienen.

Wenn man versucht, Freunde mit dieser Musik bekannt zu machen, auch solche, die durchaus gebildet sind und, nachdem man es lange genug in sie hineingeprügelt hat, vielleicht sogar das ein oder andere vom späten Beethoven hören, und die harmonischeren Stücke von Berg oder Webern, stößt man gleich wieder auf totales Unverständnis. „Krach, Chaos, Musiker, die einfach wild durcheinander spielen, wie eine Jugendkapelle beim Warmspielen vor dem eigentlichen Stück“ (usw, usf). Lustiger Weise vergessen solche Kritiker, dass sie ähnliches (bis auf die Sache mit dem Warmspielen), früher auch über die Große Fuge geklagt haben (Und zB über Bach klagen könnten, wenn da die Kirche nicht von Klein auf Häppchen mitgegeben hätte).

Und ja: Wer nicht bereits vorher schon komplexen Jazz gehört hat wird genau diese Erfahrung beim ersten Mal Ascension machen. Auch zB von Schönberg, berg, Bartok kommen hilft da nicht viel. Die Hörerfahrung ist wirklich neu.

Und ich denke, das Befremden ist tatsächlich Teil der konzeptionellen Größe dieses Werkes. Ascension ist ja der große Wurf Coltranes, der den Aufstieg zur Gottesschau, die Öffnung des Individuums zu etwas Größerem in Musik verkörpern soll. Es ist tatsächlich Sakralen Musik, die auf eine große Epiphanie zustrebt. Anders als in klassischer sakraler musik, die das Heilige preist, umschmeichelt, zielt diese Musik direkt auf das Innerste. Aber das Innerste, wie es sich dem Menschen offenbaren könnte. Ascension ist sozusagen ein faszinierender Versuch über die Offenbarung, die sich tatsächlich dann auch einstellt, wenn man dran bleibt. In dem Moment nämlich, in dem das Werk plötzlich in seiner gesamten improvisatorisch-kompositorischen Perfektion erfahren wird, in dem Moment, in dem alles genau so wirkt als hätte es schon immer so sein müssen, und es enthüllt dabei zugleich dialektisch die Gotteserfahrung auch als Produkt menschlicher Geistesarbeit an einem Größeren (der Atheist mag sagen dem Weltlauf, der Geschichte – ein religiöses Werk kann genossen werden, ohne dass man seine Religion glaubt)

Nun höre ich schon wieder die Einwände: das sei doch nur ein intellektuelles Nachvollziehen, ein (V)erklären, dass man sich mit einiger musikalischer Bildung vielleicht leisten könne, das die Musik selbst aber nicht besser mache. Man schaue sich eben Transkriptionen an und erkenne die Virtuosität des Einzelspiels und des Zusammenspiels, aber gehört würde doch eigentlich weiterhin nur Krach. Aber das stimmt nicht. Das kann nur eine Aussage von Menschen sein, die eben die Mühe, sich etwas Neues zu erschließen nicht, gar nicht erst auf sich genommen haben und wahrscheinlich bereits den Weg abwehren wollen. Es hat mit Noten- bzw. Partituren lesen nichts zu tun.Ich kann kaum Noten lesen. Und auch, wenn ich mir mein Wissen aus der Schule wieder drauf schüfe, höre ich bei den gelesenen Noten nichts. Partituren und Transkriptionen bleiben mir stumm. Es ist mehr wie das Besteigen eines hohen Berges. Man kann den im Tal Gebliebenen die Aussicht beschreiben, kann vielleicht auch noch dieses besondere Zusammenspiel da oben von Erschöpfung, Sauerstoffmangel, langsam wieder Kraft schöpfen, Licht usw zu beschreiben versuchen, und doch wird ein Talbewohner das zwar vielleicht nachvollziehen, glauben können, aber ohne den eigenen Blick vom Gipfel hat er kein tieferes Verständnis des Momentes ganz oben gewonnen. Ascension ist dieser Berg, und das Album heißt auf Deutsch nicht sonst „Aufstieg“.1

Mir ist keine Musik bekannt, kaum ein Kunstwerk, das eine tiefere Verbundenheit von Form und Inhalt zeigt, wobei noch die Auseinandersetzung des Hörers mit dem Werk sozusagen in die Sachen selbst hinein genommen wird, nicht weggedacht werden kann. Manch einer wird auf den guten alten Bach schwören (den ich ja auch mag), und dessen Wohlgeordnetheit gegen die Gotteslästerliche Wildheit Coltranes ausspielen wollen. Doch ist erstens Ascension in aller Freiheit in durchaus durchdachter Weise frei, sonst würde sich der epiphanische Effekt nicht einstellen, und andererseits: Wer will eine Musiktradition, die aus einer der größten Barbareien geboren war, die Menschen Menschen antun können, und deren Protagonisten auch später oft genug noch durch persönliche und gesellschaftliche Höllen gingen, einen Gott vorschreiben, der gemütlich im Himmel thront, eine im Großen und Ganzen sauber organisierte Welt milde beeschaut, während unten eine im Großen und Ganzen ähnlich sauber organisierte Musik das gute Werk lobpreist. Nein: für alle, die noch immer Gott glauben muss der Gott des Jazz, der mit Recht auch der Gott des 19., 20. und 21. Jahrhunderts überhaupt sein müsste, ein anderer sein. Das ist der Gott der Sklaverei, der Gott der Gemetzel beider Weltkriege und zahlreicher weiterer blutiger Schlachten und Schlachtungen, nicht zuletzt auch der Gott des Holocaust. Für viele ist „Gott“ da nur noch eine große Leerstelle. Und das ist dann die letzte große Universalität von Ascension: Dieses Werk füllt die Lehrstelle, ohne sie zu verklären, mit der Gegenwart einer der bedeutendsten menschlichen Hervorbringungen: Mit der Musik. Ascension ist Universalismus durch die wirkliche Welt hindurch, und in seiner Konsequenz eines der ganz großen Werke seiner Zeit und der Musikgeschichte.

(Da mag das Heranhören über das Art Ensemble of Chicago und Braxton geholfen haben).

1Ich habe wie auch bei Colemans Free Jazz die Browser-Chronik durchforstet und die Kommentare nochmal gelesen, nur um sicherzustellen, dass ich mittlerweile nicht aus Versehen ein anderes Album höre.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

More Posts - Website

Follow Me:
TwitterFacebook

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert