Ein Viertel voller Ganoven…
„Die Kinder des Borgo Vecchio“ von Giosuè Calaciura zeichnet auf nur 90 Seiten eine grausig-schöne kleine Welt. Die sonntägliche Literatur-Kolumne von Sören Heim.
Es ist lang her, dass ich hier den letzten Eintrag aus meiner Serie Gassenhauer veröffentlich habe. Die sucht Texte auf, die im Titel Gassen, Straßen, Häuser oder Viertel tragen, aufgrund der Beobachtung, dass sich rund um solche Bücher eine beeindruckende Konzentration von Texten hoher literarischer Qualität ausmachen lässt (über die Gründe mutmaße ich im ersten Teil).
Ein zeitloses Viertel
Die Kinder des Borgo Vecchio von Giosuè Calaciura ist mal wieder ein Buch, das perfekt in diese Reihe passt. Und, wie meist, wenn die Rahmenbedingungen gegeben sind, ein ganz wunderbares. Als zwinge allein die Lokalität einem Autor zu 80 % schon das gelungene Erzählen auf. Zu den restlichen 20 % entscheidet dann das Talent darüber, ob ein „nur“ ordentliches oder ein hervorragendes Buch vorliegt.
Die Kinder des Borgo Vecchio spielt in einem innenstädtischen Armenviertel irgendeiner italienischen Stadt am Meer, irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist eine seltsam zeitlose Welt, in der jeder jeden irgendwie betrügt und doch alle halbwegs über die Runden kommen, in der die Kinder herumstreuen, in der Diebe zu Heldenfiguren werden, und es eigentlich niemandem gut geht, aber gegen die Staatsgewalt doch (fast) alle zusammen halten. Überhaupt erinnert Die Kinder des Borgo Vecchio in Ton und Setting ein wenig an die zweite Hälfte von Die Blaue Gasse (Giuseppe Bonaviri), wobei es nicht ganz so blumig ausgemalt ist, dafür aber die starke Obsession mit jugendlicher Sexualität vermissen lässt, die das ansonsten schöne Die Blaue Gasse manchmal schwer erträglich macht. Der Stil ist dennoch sehr bildhaft, Sprachrhythmus und Bilder greifen ineinander. Auf gerade knapp 90 Seiten wird eine ganze kleine Welt ausgemalt.
Die Brutalität hinter der Idylle
Mimmo und Christofaro sind beste Freunde. Mimmos Vater ist ein kleiner Gauner, der in seiner Metzgerei die Kunden mit einer manipulierten Waage bescheißt, Christofaros Vater ist ein großer Säufer und der einzige, der das Gewicht von Wurst aufs Gramm genau abschätzen kann. Jeden Abend prügelt Christofaros Vater seinen Sohn windelweich und die Frage, wann er ihn endgültig totschlagen werde, ist das traurige Thema im Hintergrund, das den Roman zusammenhält. Corriere della Sera schrieb (laut Klappentext), Die Kinder des Borgo Vecchio sei „Eines der schönsten und grausamsten Bücher des Jahres“, und das ist tatsächlich nur ein kleines bisschen übertrieben. Im Verlauf der Handlung kommt noch die Tochter Celeste der Prostituierten Carmela als dritter Fokus-Charakter hinzu, und eine ganz wichtige Rolle spielt Toto, der Räuber, auf dessen Pistole sich die Hoffnungen der Kinder fokussieren: Vielleicht könnte man Christofaros Vater ja aus dem Weg räumen, ehe dieser den Sohn endgültig tot schlägt.
Ich denke, es wird deutlich, dass diese kurze Erzählung letztlich kein realistisches Bild eines Stadtteils zeichnen soll. Alles ist übertrieben, bis fast ins Karikaturenhafte. Dass die Szenerie gleichzeitig dennoch lebendig wirkt, nicht wie etwas, wovon sich der Roman, es „besser wissend“, distanziert, ist die große Leistung von Autor Calaciura. Einzige Schwäche dabei leider der Räuber Toto, der für die Handlung zum zentralen Beweger wird. Gerade der bleibt charakterlich zu blass, als dass sein tragischer Handlungsbogen all zu sehr berühren könnte (letztlich lässt Calaciura Toto auf der Rasierklinge zwischen Jesus und Antichrist tanzen, samt einer Kuss/Verratsszene, die nicht nur Toto, womöglich zurecht, ins Verderben stürzt, sondern auch die gerade auf dem Weg zur Verwirklichung scheinenden Hoffnungen der Kinder).
Tänzelnd über Schwächen hinweg
Das könnte dem Buch das Genick brechen, doch weil das ganze Drumherum so dicht ist und atmosphärisch so überzeugend geschrieben, strauchelt Die Kinder des Borgo Vecchio halbwegs erfolgreich über die Schwäche hinweg. Ein gelungenes Werk, das in der Art und Weise, wie es trotz der von außen betrachtet schrecklichen Verhältnissen im Viertel doch die Sympathien recht deutlich auf der Seite dieser geschundenen Schinder belässt, auch verstören kann. Soll dahinter eine tiefere Einsicht vermittelt werden, wie etwa die, dass Armut Menschen zu Monstern macht? Und dass „Monster“ doch eigentlich nur Menschen sind, sogar liebenswert sein können? Aber ist man im Borgo Vecchio überhaupt wirklich so arm? Und selbst wenn, wäre es nicht doch zu begrüßen, dass die Polizei das Viertel endlich ausräumt und die Rädelsführer hinter Gitter bringt? Gewiss, ein fast operettenhaftes Ende führt zwei der drei Kinder aus dem Viertel heraus, doch auch das bleibt von einer tiefen Melancholie durchzogen, bleibt ganz im Borgo-Vecchio-Tonfall, der von Anfang an Heimatliebe und Fernweh mischt.
Mir scheint, Calaciura will tatsächlich, was ja heute selten ist, einfach in erster Linie konsequent eine Geschichte erzählen. Und da sein Erzähler, dem Tonfall nach, den Ortskenntnissen usw. ganz eindeutig einer sein muss, der selbst aus dem Borgo Vecchio kommt, ist es konsequent, dass er keine Distanz zwischen sich und uns und die Geschehnisse bringt, es sei denn die subtilste, die aus Ambivalenz geboren wird, die auf den per se schon an allem zweifelnden modernen Leser trifft. Das Durchführen von Erzählung und Erzählperspektive kommt zuerst. Ob und welche moralischen Schlüsse Leser dann daraus ziehen wollen – das bleibt ganz diesen Lesern überlassen.
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