Warum (zur Hölle!) Gegenwartsliteratur lesen?
Die Literaturgeschichte hat genügend Meisterwerke hervorgebracht, die man 24/7 wieder und wieder lesen könnte. Warum plagt sich unser Literaturkolumnist eigentlich trotzdem mit den immergleichen mittelmäßigen Texten herum über die Leiden mittelalter Mittelklasse-Männer und Frauen an einer Gesellschaft, an der sie doch nichts ändern wollen?
Warum lese ich eigentlich überhaupt noch Gegenwartsliteratur? Also, vor allem deutsche Gegenwartsliteratur, international drängt ja doch immer mal wieder der ein oder andere Stoff zu einem gelungenen Inhalt. Aber hier? Da fahren regelmäßig mittelalte bis alte Männer irgendwohin, um sich innerhalb des bürgerlichen Trotts selbst zu finden oder neu zu orientieren, und dass selbst das nicht geht ist dann die so voraussehbare wie ausgelutschte Pointe. Oder junge StädterInnen stellen sich auf dem Land oder in einem Vorort existenziellen Fragen wie „wie lange kann man eine Wand anstarren und hoffen, dass sie zurückstarrt, bis der Leser dann doch lieber die neue Staffel von DSDS einschaltet?“.
Die deutsche Literatur-Formel
Aber es sind ja nicht mal die Inhalte. Man kann aus jedem gottverdammten Inhalt literarisch etwas machen. Es ist auch und besonders die Form: Diese kurze Prosa. Diese im Stakkato beschreibende. Mit den bildlichen Adjektiven. Die mal gelb, mal grün schillern. Und dann sich mal parataktisch zu einem hohen Gedanken aufschwingen, wie dem, dass, wenn in unendlicher Zeit unendlich viele Menschen sowieso alle nur denkbaren Geschichten geschrieben haben werden, es letztlich egal ist, ob und welches Buch man schreibt. Und dann wieder: Kurze Sätze. Rhetorische Fragen. Und je nach Autorenhabitus (Neo-Bukowski!) vielleicht noch ein paar Kraftausdrücke.
Immerhin, in ihrer absoluten Belanglosigkeit hat die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wahrscheinlich erstmalig in der Breite die absolute Kongruenz von Form und Inhalt erreicht. Hurra.
Und dann sind da noch diese Schrifstellerromane. Schriftsteller, die übers Schriftstellern Schriftstellern. Vielleicht, weil man als Schriftsteller nicht mehr in die Welt heraus kommt, um anregenden Stoff zum Schriftstellern zu finden? Ernsthaft, jedem Schriftsteller sollte nur genau ein Schriftstellerroman gestattet sein. Die gehen nämlich auch in gut, wenn man es nicht übertreibt.
Es gibt nicht viel große Kunst, doch es gibt ja mehr als genügend. Hundert, vielleicht 200 Werke der Moderne, dazu nochmal einige Dutzend Klassiker, die man eigentlich immer wieder lesen könnte. Einen Korpus, mit dem man, setzt man etwa 100 Seiten pro Tag an, jeweils bestimmt 2 bis 5 Jahre beschäftigt wäre. Das ist, angesichts der Tatsache, dass es bei solchen Werken ebenso wenig auf das Ende ankommt wie in einem guten Stück Kammermusik, geschweige denn auf irgendwelche „Plottwists“, die man nur einmal genießen könnte, ein absolut ausreichend großer Zeitraum, um wieder von vorn zu beginnen. Große Kunst lässt sich nicht spoilern.
Natürlich lese ich trotzdem…
Und trotzdem halte ich es natürlich nicht so. Ja, ich lese viel mehrfach, aber doch eben auch immer wieder dieser halbgaren Schinken und Schinkenhäppchen, die sich Gegenwartsliteratur nennen. Manches Buch breche ich ab, oft genug lese ich eines dann doch herunter, denke mir, immerhin, so schlecht, dass man es abbrechen müsste, ist es ja nicht. Warum zur Hölle macht man so etwas?
Ein naheliegender Grund: Es lässt sich gut drüber schreiben. Und wenn man das regelmäßig macht, bekommt man sogar Bücher zugeschickt, über die man dann schreiben kann. Aber warum sollte man das eigentlich wollen, wenn doch bereits vorauszusehen ist, dass 95 % dieser Bücher auch im besten Falle nur so la la sein werden?
Ein weiterer: Manchmal liest man ja gern Bücher, bei denen man nicht mit voller Konzentration bei der Sache sein muss. Man kann lesend ebenso entspannen wie binge-watchend. Allerdings würde man da auch bei klassischer Abenteuerliteratur oder in der modernen Fantastik fündig, und tatsächlich hatte ich mit den meisten Spaß mit meinem Literaturkolumnen während der Auswahl und Lektüre der Titel zur Fantastischen Reise. Immerhin: Diese Werke wollen noch unterhalten, während das Anstrengende an der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ja gerade ist, dass sie mit jedem Satz ihre tiefere Bedeutung zu behaupten suchen. Und dann: Nah, fern, weit, breit – nichts Bedeutungsvolles.
Zuletzt: Entdeckerlust. Denn wenig war aufregender, als wenn man, zB anfangs der Uni, oder mit ganz viel Glück schon in der Schulzeit oder gar im Bücherschrank der Eltern, ein Werk entdeckt hat, das den eigenen Horizont, das eigene Erfahren, ganz weit auf stößt. Der zweite Faust, Der Zauberberg, To The Lighthouse. Das Grüne Haus, Der Gott der Kleinen Dinge, Die Satanischen Verse. Die Gelehrtenrepublik, Das Schwarze Buch, Explosion in der Kathedrale. Und das möchte man wieder (Letzte Glücksfälle: Jazz. Der Vogelgott). Und wenn möglich vielleicht gar in einem Werk, das aus der eigenen Zeit stammt, vielleicht gar aus dem eigenen Lebensbereich. Und dann vielleicht noch, sei es als Rezensent, sei es im Freundeskreis, solche seltenen Werke weiter empfehlen, wie man sie einst selbst empfohlen bekommen hat.
Alle Wahnsinnig?
Und dafür quält man sich durch all den Mist. Diese immer gleich formulierten Sätze, diese immergleichen Variationen bürgerlicher Befindlichkeitstümelei, die ganz besonders unerträglich dadurch werden, dass niemand mehr bereit ist, sie als bürgerliche Befindlichkeitstümelei zu präsentieren, sondern jeder sich als kleiner Widerständler behauptet, diese formalen Experimente mit angezogener Handbremse, diese nur mühsam bemäntelten autobiografischen Selbstbespiegelung, diese Texte von Schriftstellern, die eigentlich immer das gleiche Buch schreiben, die „Romane“ feiger Philosophen und APO-Politiker, die sich nicht trauen, ihre Gedanken als Argumente in den Raum zu stellen und angreifbar zu machen, sondern sie ihren Figuren in den Mund legen, usw., usf.
„Wahnsinn“, wird Albert Einstein (wohl fälschlich) zugeschrieben, sei „ immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten“. Als Leser deutschsprachiger Gegenwartsliteratur dürfte man sich in dieser Form des Wahnsinns gut wieder finden. Aber was soll’s, man befindet sich auch in guter Gesellschaft: Vom täglichen Gang zur Arbeit, über das sich Stürzen in neue Beziehungen oder die andauernden Kämpfe in alten, bis hin zum alle vier Jahre wählen Gehen: Das Gleiche tun und hoffen, dass dabei ein anderes Ergebnis herauskommt ist ja geradezu der Existenzmodus in der bürgerlichen Gesellschaft schlechthin.
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