Engel mit gebrochenen Flügeln

Das „verlorene Album“ Marvin Gayes ist ein hervorragender Einstieg in eine himmlische Stimme, deren Leben oft die reine Hölle war. Hilfloses Opfer, übergriffiger Täter, Soul-Genie und abgewrackter Junkie – all diese Gegensätze vereinen sich zu einer Tragödie shakespeareschen Ausmaßes!


Vernimmt man den Marvin-Gaye-Song „You’re The Man“, der als eine Art offener Brief dem US-Präsidenten Egomanie, Rassismus, Demagogie, Rechtslastigkeit und Lüge vorwirft, denkt man unwillkürlich: „Aha, es geht um den amtierenden Chef.“ Weit gefehlt – und doch richtig. Denn einerseits eignet sich die Single hervorragend als Blaupause für den gegenwärtig mächtigsten Mann der Welt. Andererseits: Noten und Zeilen haben bereits ein knappes halbes Jahrhundert auf dem Buckel und richten sich gegen Richard Nixon, seines Zeichens Bruder und Vordenker im Ungeiste der heutigen Amtsführung: Wie viele Afroamerikaner, Latinos und andere Nichtangehörige der weißen, angelsächsischen und protestantischen Oberschicht, war Gaye 1972 mit einiger Berechtigung zutiefst bedient von der rechtsnationalen Doktrin des damaligen Machthabers. So lancierte er im Wahlkampf diesen ebenso lieblich dargebotenen wie sarkastischen Groove.

Gayes Liebesmüh war freilich vergeblich, und zwar gleich in doppelter Hinsicht. Denn abgesehen von Nixons politischem Triumph jener Tage zeigte ihm auch Gayes Schwager, der allmächtige Motown-Boss Berry Gordy, die kalte Schulter bezüglich eines Dutzends weiterer Tracks, die dieses Album hätten bilden sollen: Gordy hatte wenig übrig für politische Songs. Er sah Showbizz und besonders den Soul ausschließlich in der Rolle federleichter, gern romantischer bis erotischer Zerstreuung. Schon Gayes legendäres Vorgängeralbum „What’s Going On“ nahm er eher zähneknirschend hin und ließ sich nur notdürftig von den exorbitanten Verkaufszahlen des heutigen Klassikers besänftigen. Nachdem die Single dann beim weißen Publikum floppte, stoppte er kurzerhand jede Unterstützung für „You’re The Man“.

Auch heute, eben nach langer Zeit im Giftschrank endlich veröffentlicht, bleibt das Album „You’re The Man“ ein Zankapfel. Die einen halten es für einen großen Wurf, andere verschmähen es als Mogelpackung. An beiden Thesen ist etwas dran. Wahr ist: Quasi alle Tracks der Platte sind bereits als Einzelschnipsel auf teils obskuren Publikationen erschienen, wenn auch teilweise schauderös bearbeitet. Richtig ist aber auch: Genau diese krude Streuung nahm dem herkömmlichen Publikum bisher die Möglichkeit, das Ganze als zusammenhängende Gesamtschau wahrzunehmen, als die sie der Künstler einst konzipierte. Hinzu kommt, dass diese Stücke als „Missing Link“ Gayes Übergang vom politischen Protestler zum totalen Erotomanen abbilden.

Allein hieraus ergibt sich eine musikhistorische Qualität, deren dokumentarischer Charakter eine zu lang bestehende Lücke schließt. Neben dem genannten Titelsong eignet sich als Anspieltipp besonders das ebenso warme wie ungewohnt spacige „Christmas In The City“, in dem Gaye mit einem damals futuristisch anmutenden Moog-Synthie experimentiert. Wendet man von diesem 1972er-Scheitelpunkt das Auge gen Vergangenheit und verbleibende Zukunft, erblickt man ein zerrissenes Dasein zwischen Höhenflug und Abgrund. Negative Schlüsselfigur ist Gayes Vater, seines Zeichens erzkonservativer und fundamentalistischer Prediger mit sadistischem Hang zur Gewalt. Von frühesten Kindesbeinen an misshandelt Marvin Senior den ungeliebten Sohn, in dessen aufgewecktem Wesen er das Wirken des Teufels sah. Zeitweilig von Anhängern als „Heiler“ und Exorzist gesehen, unterzog er den Jungen beinahe täglich brutaler Auspeitschungsrituale, deren Spätfolgen den erwachsenen Superstar des öfteren an den Rand des Suizids trieben. Zur weiteren Beschämung und Verstörung des Jugendlichen trugen jene Widersprüche bei, die sein Vater hinter der Deckung von Strenge und Frömmlerei verbarg: Er war sogenannter Cross-Dresser, also ein Mann, der leidenschaftlich gern Frauenkleider trug. Das einzig Positive für das Kind war jener Kirchenchor des Vaters, der Marvins Begeisterung für Musik entfachte. Er sang quasi überall – nur nicht im Haus seiner Eltern.

Nach dem Militärdienst wagte Marvin Junior den Sprung ins brodelnde Detroit. Ex-Boxer und Selfmademan Berry Gordy nahm Gaye für sein aufstrebendes Motown-Label zunächst als Sessionmusiker (Drums, Piano) und Songwriter unter Vertrag. Dort brach sich jenes Talent endlich Bahn, das Gaye als Solo-Künstler zu einem der größten Soulmusiker aller Zeiten erblühen ließ. So verlief sein Leben in den 60ern zunächst wie eine einzige rauschende Ballnacht. Er heiratet Gordys Schwester Anna, fünfzehn Jahre älter als er. Zahlreiche Hits folgen, darunter 1968 seine ewige Visitenkarte, der Übersong „I Heard It Through The Grapevine“: Selten klang ein Drama über Eifersucht, vermeintliche Untreue und Schmerz anheimelnder als dieser unwiderstehliche Groove. Marvin Gayes musikalische Palette war stilistisch breiter gefächert als der archetypische, mitunter schabloneske Motown-R&B jener frühen Ära: Sein Spektrum beinhaltete Jazz, cooles Croonertum Marke Frank Sinatra, ungezähmten Funk und den unbedingten Willen, all diese Facetten auch auszuleben – er wollte keine schwarzen Fans und keine weißen, sondern nur noch sein Publikum. Diese ambitioniert sprudelnde Kreativität machte zwar Berry nicht immer glücklich, bescherte der Welt jedoch besonders in den 70ern eine Handvoll grandioser LPs.

Zusätzlich etablierte er sich mit Tammi Terrell als extrem populäres Duo. Terrell weckte in Gaye sensible Zuneigung, beide waren eng verbunden wie Geschwister. Zusammen brachten sie die Originalversion des Evergreens „Ain’t No Mountain High Enough“ auf die Bühne. Doch auf eben dieser Bühne endete auch alles Schöne für Gaye in erneuter Traumatisierung: Terrell brach 1967 bei einem Konzert in seinen Armen zusammen. Die Diagnose: Unheilbarer Hirntumor! Mit gerade mal 24 Jahren verstarb die geliebte Partnerin. Gaye, am Boden zerstört, war tief verwundet. Er konnte diesen Schicksalsschlag nie wirklich verwinden: Hatte er Schuld daran, weil er den Weg der Kirche seines Vaters zugunsten jener Musik verließ, die jener als Pfad Satans gegeißelt hatte? Der Komplex stürzte ihn in tiefe Depression und löste eine massive Drogensucht aus, die ihn bis zum Tod begleiten würde.

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Parallel ging die Ehe mit Anna zugrunde, unter anderem an Eifersucht und Misstrauen wegen seines Status‘ als Sexsymbol. Gayes demonstrative Maskulinität fußte auf jener lebenslangen Angst, eventuell doch des Vaters Hang zum Crossdressing geerbt zu haben. Auch die ab „Let’s Get It On“ (1973) ultimative Sexualisierung seiner Platten mag als Ausdruck dieser Paranoia gelten. Bei der Arbeit an besagter LP lernte er die erst 16-jährige Janis Hunter kennen – sie wurde seine zweite Frau, beide gründeten eine Familie. Doch so sehr Gaye sich bemühte, die Dysfunktionalität des Elternhauses samt Trauma zu überwinden, so kaputt war mittlerweile sein Verhältnis zu Frauen und sich selbst: Innere Dämonen erwachten, der Star missbrauchte Janis sexuell, wurde durch Kokain auch im Alltag unberechenbar. Die Ehe zerbrach. Sein Freund Smokey Robinson sagte einst: „Marvin wurde von den Leuten geliebt. Aber nicht von sich selbst. Das war sein Problem.“

Im Gegensatz dazu gelangen dem Sänger in den 70ern schlicht grandiose Scheiben. So empfiehlt sich, neben den üblichen Verdächtigen ein besonderes Ohrenmerk auf den superben Blaxploitation-Soundtrack „Trouble Man“ zu legen, auf das knisternde „I Want You“ und das sarkastische „Here My Dear“. Letzteres glänzt mit hörbarer Bitternis – man hatte ihn zuvor verurteilt, den Erlös der Platte an Ex-Frau Anna als Abfindung abzutreten. Nach weiteren Abstürzen, Selbstmordversuchen und einer kurzen Periode der Konsolidierung gelang ihm 1982 mit der Single „Sexual Healing“ und dem zugehörigen Album „Midnight Love“ ein bahnbrechendes Comeback. Kommerziell wie künstlerisch räumen Song und LP als Meilensteine der 80er ab.

Wird die zerschundene Seele des ewig Suchenden nun endlich ihren Frieden finden? Nicht in dieser Welt! Am 1. April 1984 erschießt Marvin Gaye Senior seinen Sohn mit drei Schüssen, als der seine Mutter vor der Wut des Vaters schützen will. Die Pistole hatte der Sänger diesem Jahre zuvor selbst geschenkt. Doch getötet hat jener seinen Sohn letztendlich bereits Dekaden zuvor. Der spätere Prozess ergab, dass sich zum Tatzeitpunkt ein walnussgroßer Tumor in Reverend Gayes Kopf befand, der für die Begehung der Tat mitverantwortlich sein könne. Er überlebte seinen Sohn um 14 Jahre. Die Lieder des gebrochenen Engels bleiben unsterblich.

 

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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