Ganz starker Krimi, große Literatur: Niklas Natt och Dag’s „1793“
Niklas Natt och Dag ist mit „1793“ ein spannender historischer Krimi gelungen.
Autor Niklas Natt och Dag kannte ich bisher nicht. Kein Wunder, es scheint sich um einen Debütanten zu handeln. Und auch das Buch 1793 hat mir niemand empfohlen. Dafür, dass ich ein Rezensionsexemplar angefragt haben, war also allein der Klappentext verantwortlich, der einen atmosphärisch dichten historischen Krimi verspricht. Gut gemachte Unterhaltung ist alle Mal besser als schlecht gemachte Intellektuellenliteratur, und bereits mit dem so fragwürdig betitelten Höllenjazz in New Orleans hatte ich das Glück, ein Werk zu entdecken, dass sich auf beiden Feldern nicht verstecken muss (wie es ja überhaupt vor allem ein deutsches Missverständnis zu sein scheint, dass anspruchsvolle Texte immer eine gewisse Bräsigkeit ausstrahlen müssen – oder schlimmer: dass Bräsigkeit für Anspruch bürgt).
Leichen, Kneipen, Bordelle
1793 erzählt die Geschichte des Fundes einer grausam verstümmelten Leiche im Stockholm des besagten Jahres. Gemeinsam mit dem Kriegsversehrten Jean Michael Cardell und dem tuberkulösen Cecil Winge spüren die Leser zwischen Kneipen, Bordellen und von Abfall überlaufenden Straßen dem Opfer nach, wobei die spärlichen Spuren in Richtung einer Wohltätigkeitsorganisation führen, die etwas von einem Geheimbund hat.
Dann springt die Handlung, und ein ausführendes Organ der Verstümmelungen erzählt selbst, ohne dass allerdings dadurch wirklich Licht ins Dunkel käme.
Ein weiterer vorerst unverbundener Handlungsstrang erzählt die Geschichte der jungen Anna Stina, die, nachdem sie einen Jugendfreund abgewiesen hat, von diesem der „Hurerei“ beschuldigt wird und nach kurzem sich Durchschlagen als Obsthökerin zu anderthalb Jahren „Resozialisierung“ im Spinnhaus verurteilt wird. In der Welt, die Niklas Natt och Dag zeichnet, haben Frauen erst Recht die Arschkarte gezogen
Man kann 1793 wahrscheinlich vorwerfen, ein bisschen sehr in tiefem Grau und Schwarztönen gezeichnet zu sein. Was hier an Leid auf Leid getürmt wird, wobei wirklich alle Hauptcharaktere psychische und/oder körperliche Gebrechen mit sich herumschleppen, dürfte selbst für das historische „Jahr des Schreckens“ (Victor Hugo) ein wenig zu viel des Guten sein. (Der Autor nennt aber in einem kurzen Nachwort für die übelsten Passagen aus dem Spinnhaus für Frauen, die den sozialen Normen nicht entsprechen (die wenigsten sind im heutigen Sinne Verbrecher) Quellen, aus denen er sich relativ treu bedient haben will, selbst die persönlichen Verfehlungen der Wachleute seien nicht erfunden, nur erzählerisch ausgestaltet).
Gelungener historischer Roman
Unabhängig von der Quellennähe: Als Roman funktioniert 1793. Das Werk besticht tatsächlich durch seine atmosphärische Dichte, durch das plastisch vor Augen stellen einer Welt, die in Krieg, Korruption, sexueller Gewalt und Malaria versinkt. Gekonnt eingearbeitet sind die psychischen Schocks der französischen Revolution und die Köpfung des Königspaars 1793, was wiederum die Grundlage dafür legt, dass die Erfahrung der Revolution selbst bei einem der Protagonisten noch eine größere Rolle spielen wird.
Man wird nicht erleben, dass die Sprache sich zu herausragenden poetischen Momenten aufschwingt, aber auch selten Formulierungen finden, die zum Erzählten quer stehen. Wer nur wegen des Krimis gekommen ist, wird bleiben wegen eines lesenswerten historischen Romans mit Krimielementen. Ein wenig zum Stolperstein könnte die Aufsplittung der Erzählstränge werden: Dadurch, dass jeder separat für sich erzählt wird, dauert es immer eine ganze Zeit, bis wieder ein Bezug zur vorherigen Handlung erkennbar wird. Besonders der zweite Strang, in Briefen erzählt, fällt ein wenig ab: Dass jemand ohne tiefere Bildung, der solche Grausamkeiten erlebt und verübt hat, in einem solch manierlichen gutbürgerlichen Stil Briefe schreibt, das ist schwer vorstellbar. Auf der anderen Seite gelingt Autor Natt och Dag im vierten Teil das Zusammenführen der einzelnen Erzählungen so überzeugend, dass man sich das Buch zuletzt kaum anders denken kann. Es gibt, abweichend von dem, was einige unaufmerksame Amazon-Rezensenten behaupten, tatsächlich im strengen Sinne überhaupt keine „Neben“handlung, und die Verfahrensweise erinnert ein wenig, wenn auch deutlich moderater, an die Aufsplittung und Engführung von David Mitchels Cloud Atlas.
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