Vom Zynismus eines einzelnen Wortes: „Mittelfristig“.

Die Rede davon, dass Herausforderungen wie die Automatisierung „mittelfristig“ kein Problem darstellen werden, ist zynisch, findet Kolumnist Sören Heim:


In dieser Kolumne soll es um ein einziges Wort gehen. Genauer: Um den Zynismus eines einzelnen Wortes: „Mittelfristig“.

Folgen der Automatisierung
hängen von ihrer politischen Gestaltung ab

Ich habe mich schon mal darüber ausgelassen, dass entgegen eines beliebten liberalen Credos kein Automatismus von der Automatisierung und Digitalisierung zur Schöpfung besserer und besser bezahlter Jobs führt. In Kürze: Damit das geschieht, müssen Unternehmen einen Grund haben, zu wachsen und Leute in neuen Positionen einzustellen. Das gelingt, wenn trotz Automatisierung die Nachfrage hoch bleibt. Im 19. Jahrhundert sicherten das der Druck, der durch Auswanderung und Gewerkschaften auf die Löhne entstand, in der Nachkriegszeit anfangs die durch die Kriegsverluste stark reduzierten Arbeitskräfte und später solide Sozialsysteme.

Andererseits führt technologischer Fortschritt auch nicht zwingend zu Jobverlust (auch dazu mehr in der oben bereits verlinkten Kolumne): Ohne entsprechenden ökonomischen Anreiz lohnt es sich nicht mal unbedingt, auf breiter Fläche zu automatisieren: Menschliche Arbeitskraft war z.B. in den vergangenen dreißig Jahren oft schlicht billiger.

In einer Kolumne in der NZZ las ich nun das altbekannte Credo wieder, diesmal ergänzt um ein kleines Wörtchen:

„Bei wirtschaftlichen Umbrüchen entstanden [historisch betrachtet] schon mittelfristig viel mehr neue Stellen, als alte verschwanden. Immer kam mehr Wohlstand für alle dabei heraus.“

Von der Kurzsichtigkeit zum Zynismus

Es ist der Verweis auf diese Mittelfristigkeit, der (zumal unbestimmt) die Betrachtung zwar wahrer macht als das unmodifizierte Credo, doch auch zynischer. Denn tatsächlich: Bisher ging es nach jeder Krise irgendwann wieder aufwärts. Die Frage ist stets, von welcher Basis aus. Und irgendwann wird sicher auch das vorherige Niveau wieder übertroffen, und es finden mehr Menschen Arbeit als zuvor (wobei unsicher bleibt: In absoluten oder relativen Zahlen?).

So oder so, was zuvor in der mittleren Frist geschehen ist, darüber tänzelt die Aussage leichtfüßig hinweg. War das unmodifizierte Credo vor allem blauäugig, lässt die Rede von der mittleren Frist viel Elend nonchalant verschwinden. Zum Beispiel, historisch betrachtet: Natürlich hat die industrielle Revolution den Wohlstand erhöht und kaum jemand wollte heute hinter deren Ergebnisse zurück. Doch die Zeiten, in denen in Großbritannien Gemeingut eingehegt wurde, ein Industrieproletariat und „Lumpenproletariat“ entstanden, und nicht zuletzt das Wirtschaftssystem ohne den Anschub der Brutalitäten des Kolonialismus und des kontinuierlichen Abflusses von Arbeitskräften in die Kolonien (wo übrigens nicht nur neun von zehn Ureinwohnern, sondern fast ebenso viele Indentured Servants starben), die möchte doch hoffentlich niemand verklären?

Das ist sicher das extremste Beispiel, wenn auch geradezu grundlegend für die technologisch-soziale Entwicklung bis in unsere Zeit, doch große technologische Umbrüche werden ohne gesellschaftliche Umbrüche nicht abgehen. Schon allein deshalb, weil in den wenigsten Fällen die Menschen, deren Arbeiten an Fließbändern, in Call-Centern, in der Datenverwaltung, in der Textarbeit und wo nicht sonst noch in Zukunft wegrationalisiert werden könnten, die neuen entstehenden Arbeiten werden übernehmen können, für die es, um bei diesem Beispiel zu bleiben, möglicherweise ein tieferes Verständnis informatischer Prozesse brauchen wird. Wer nicht darüber spricht, wie man solche Menschen absichert, sollte von „mittelfristigen“ Chancen schweigen. Zumal, siehe oben, die Absicherung ganz entscheidend dafür ist, dass mittelfristige Chancen sich entfalten können.

Gilt auch für den Klimawandel

Analog gilt das für alle ähnlichen Fälle der Rede von der mittleren Frist. Wer etwa sagt, mittelfristig werde die Menschheit sich mit dem Klimawandel schon arrangieren, auch wenn er sich nicht mehr vermeiden lasse, der lege bitte gleich auch seine Pläne vor, wie man Millionen Dürretote verhindert, wie man den Flüchtlingen aus zahlreichen Küstenstädten ein lebenswertes Dasein anderswo ermöglicht usw. usf.. Sonst kommt hier wie dort nur der unreflektierte Wohlstandschauvinismus (meist weißer) Mittel- und Oberschichtler zur Sprache, der mit dem Versprechen mittelfristigen Glücks ernsthafte Sorgen und Probleme der weniger Privilegierten möglichst kurzfristig beiseiteschieben möchte.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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