Muslime, die keinen Bock auf Islamismus haben…

… brauchen Unterstützung. Denn die ersten Opfer eines reaktionären Islam sind liberale Muslime. Das sollte man in den Blick nehmen und sie nicht als Feigenblatt gegen „Islamkritiker“ in Anschlag bringen, zeigt Kolumnist Sören Heim am Beispiel des Kosovo – nebst einer Reiseempfehlung.


Prizren im Kosovo ist eine der schönsten Städte, die ich kenne. Eine herrliche historische Altstadt, die sich über einem rauschenden Fluss fast bis zur Kalaja e Prizrenit („Festung von Prizren“) erhebt, die noch über den Häusern thront. Zahlreiche Kirchen und Moscheen. Unzählige Cafés, Party die ganze Nacht, viel gute Livemusik und ein wundervolles Gebirge zum Wandern nahbei.
Natürlich hat Kosovo noch immer große Probleme: Die Arbeitslosigkeit ist gigantisch, die Landwirtschaft kann die Bevölkerung nicht versorgen und es fällt weiterhin schwer, überhaupt eine grundlegende wirtschaftliche Basis aufzubauen. Besonders im Norden ist der Konflikt zwischen Albanern und Serben nur eingefroren.

Teils hängen, was Kosovo so anziehend macht und dessen wirtschaftliche Schwierigkeiten, wohl sogar zusammen: Die Ökonomie, in der man am besten Politiker oder Musiker wird und jeder, der die Möglichkeit hat, eine Kneipe öffnet, dürfte auch von den Überweisungen der großen Diaspora befeuert werden – Kosovo wirkt wie eine „Dienstleistungsgesellschaft“ ohne Fundament. Was dem Nachtleben gut tut, ist nachhaltiger Entwicklungen wohl eher abträglich (wobei die Probleme komplex sind und unter anderem wohl auch mit Subventionspolitiken umliegender Staaten und der EU zu tun haben, mit denen sich Kosovo nicht in einen Unterbietungswettlauf begeben kann).

Kein Wunder, dass die Menschen im Kosovo auf den Tourismus hoffen, doch obwohl das Land sicher ist (wirklich sicher: In Prizren lasse ich meine Tasche auch schon mal unbeobachtet stehen), das Reisen günstig, und die Mischung aus historischer Architektur, Landschaft und Party einzigartig, haben die meisten Menschen beim Wort Kosovo noch immer ein Kriegsgebiet vor Augen. Das ist großer Unsinn, und eine Reise nach Prizren kann ich nur empfehlen.

Zweierlei Islam in Kosovo

Wein, der in Strömen fließt, knutschende Pärchen in den Straßen, derweil weniger Kopftücher als in einer durchschnittlichen deutschen Kleinstadt. Kosovo ist auf den ersten Blick auch das Paradebeispiel eines mehrheitlich islamisch geprägten Staates, der zumindest in größeren Städten so sekulär ist, dass die Religion im Alltag kaum spürbar wird. Außer, dass es mit der Nachtruhe dank Muezzin-Gesang um 6 Uhr vorbei ist. Wäre Kosovo nicht noch immer so angstbehaftet, es könnte auch ein beliebtes Reiseziel für all die sein, die sich davon überzeugen möchten, dass Islam nicht zwangsläufig zu Extremismus führen muss.
Hier mit dem Finger zu zeigen und zu sagen „die Islamritiker schüren immer nur Panik“ (obwohl es natürlich solche gibt), wäre allerdings auch zu kurz gesprungen. Und es erwiese den Kosovaren, die sich heute größtenteils als Muslime identifizieren, einen Bärendienst:

Denn selten habe ich lautere, und manchmal auch wütende, Kritik an der Religion vernommen, als in Kosovo. Ja, tatsächlich: Ausgerechnet junge Kosovaren (und Kosovo ist generell jung, mit einem Altersschnitt unter 25 Jahren), beschweren sich in einer Drastik, die mich anfangs erschrocken hat, über etwas, das Spiegel und Bild wohl „schleichende Islamisierung“ nennen würden.
Eine Gesprächspartnerin aus Prishtina erklärte es folgendermaßen (aber wer sich nicht auf Hörensagen verlassen möchte, ich habe 2 Quellen verlinkt): „Das Geld kommt aus Saudi-Arabien oder aus der Türkei. Zuerst stellen sie dir eine Moschee ins Viertel, da ist an Schlaf dann schonmal nicht mehr zu denken. Die Prediger kommen ebenfalls aus den entsprechenden Staaten und sind ultrakonservativ, teils radikal. Kombiniert mit der entsprechenden Gemeindearbeit, hinter der eben ein großes Portmonaie steht, versucht man so die jungen Leute zu erreichen.“
Was angesichts von je nach Quelle bis zu 70 % Jugendarbeitslosigkeit irgendwann durchaus funktionieren könnte.
Eine andere Gesprächspartnerin, die den wachsenden Einfluss des Wahhabitismus beklagt, hält das in den Städten zwar für ein hoffnungsloses Unterfangen: Den jungen Kosovaren sei ihr freier Lebensstil viel zu wichtig (und über einen konservativen Islam macht man sich gerne lustig, nennt etwa Minarette „Raketensilos“ und streng verhüllte Reisegruppen auch schon mal „Pinguine“), in kleineren Städten und Dörfern aber sähe die Sache ganz anders aus. Immerhin: Kosovo stellte, auf die Bevölkerung umgerechnet, den höchsten Anteil an IS-Kämpfern auf dem Balkan.

Die versteckteren Zeichen

Und selbst in den größeren Städten hat sich in den letzten vier Jahren etwa die Anzahl der Geschäfte für „islamische Kleidung“ deutlich erhöht. Jetzt mag man sagen: Ist doch egal, das ist die Freiheit des Marktes. Die gleiche Person wollte ich einmal hören, wenn mit Geldern aus sagen wir dem amerikanischen Bible Belt in der eigenen Heimatstadt plötzlich radikale Prediger finanziert würden und Schaufenster allenthalben begännen davon zu erzählen, wie man (besonders: „Frau“) sich keusch und devot zu kleiden habe. Es geht nicht um Verbote, sondern darum, auch die versteckteren Zeichen zu lesen.

Es ist schön, dass es den Islam unter anderem kosovarischer und albanischer Prägung so gibt, ebenso wie all die anderen Muslime weltweit, für die Religion einfach nur ein Bestandteil unter vielen ihres Lebens ist. Aber es genügt nicht, es ist sogar zynisch, diese dann immer wieder als Feigenblatt gegen eine radikale Interpretation der Religion herauszustellen, nach dem Motto „seht her, es gibt keine Probleme.“ Das Mindeste wäre, anzuerkennen und immer wieder darauf hinzuweisen, dass der liberale Islam durch den radikalen akut bedroht ist. Und die bedrohten Liberalen sollten unterstützt werden. Das ist kein Aufruf zum wagemutigen Kampf an hysterische „Abendlands“verteidiger, die schon die Mistgabeln polieren, nein: Diese Unterstützung kann mit Kleinigkeiten beginnen, wovon die Anerkennung des Problems der erste, höchstrelevante Schritt wäre. Auch das Entdecken des Kosovo als Reiseland könnte übrigens helfen, denn touristisches Wachstum würde nicht nur die Arbeitslosigkeit drücken und Perspektiven bieten, das Geld käme auch definitiv beim weltoffenen Teil der Bevölkerung an. Gleiches gilt natürlich für Programme und Projekte wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Und den wütenden Vollzeit-Internetbewohnern sei es nochmal Stammbuch geschrieben: Der Feind sind nicht „die Muslime“. Nicht nur Muslime in Kosovo zeigen, dass man eine Religion kritisieren kann, ohne in Hass auf Gläubige zu verfallen.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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