Der gefährlichste Gedanke der letzten Jahre?

Die Vorstellung, Suchmaschinen sollten am besten nur eine exakt richtige Antwort geben markiert perfekt den Kipppunkt von aufklärerischem Individualismus in modernen Totalitarismus.


„Bekommen Sie mehr als eine Antwort, wenn Sie Google nutzen? Natürlich. Nun, das ist ein Fehler. Wir sollten wissen, was Sie meinten, und in der Lage sein, Ihnen nur eine exakt richtige Antwort zugeben.“

So zitiert die Süddeutsche Zeitung eine Aussage des damaligen Google-Chefs Eric Schmidt von 2005 mit Blick auf aktuelle Pläne Googles zum Umbau der Suchmaschine.
Unter den vielen erschreckenden Sätzen, die man dieser Zeit liest, ist das doch einer der erschreckendsten, denn er drückt eine wohl zutiefst mehrheitsfähige Sehnsucht aus.
Es ist allerdings auch ein dankbarer Satz, der perfekt für diese gesamte nur oberflächlich an den Naturwissenschaften geschulte Pseudoverwissenschaftlichung des Denkens steht, die es dem Populismus so leicht macht, die träge gemachten Menschen wie reife Pflaumen zu pflücken (Dialektik der Aufklärung in nuce).

Nur eine wahre Antwort!?

Aber wäre das nicht toll? Nur ein Ergebnis? Und, was ja mitgemeint ist, genau das Richtige? Nein: Das ist stupidestes Führerprinzip ohne Führer. Anders als zumindest dem Ideal nach naturwissenschaftliche Fragestellungen haben die meisten alltags- und gesellschaftlichen Fragen keine einfache richtige Antwort (und selbst in der Physik wackelt diese Vorstellung seit langem). Wenn ich in eine Suchmaschinenmaske eingebe „Jan Böhmermann + Antisemitismus“ oder „PC Spiele + Gewalt“, dann wäre es fatal, in der Folge nur einen einzigen Link präsentiert zu bekommen. Und zwar egal, was drin steht, und ob der autoritär von der Suchmaschine für alle gleich ausgespuckt würde oder scheinbar individualistisch jedem einzelnen Nutzer auf den Leib geschnitten.

Nun mag die derzeit geplante Neuausrichtung Googles am Ende ganz anders aussehen. Was man bisher hört klingt nach ein bisschen mehr soziales Netzwerk, ein bisschen mehr kuratierte Inhalte auf der Startseite, ansonsten die moderat geführte Suche, wie gehabt. Auch möchte man angesichts eines so idiotisch zusammengeschnittenen Verständnisses von Individualität selbst als nicht Marktradikaler ein wenig Marktvertrauen beweisen: Sollte Google tatsächlich immer nur ein Ergebnis ausspucken, die Nutzer wanderten doch in Massen zur Konkurrenz ab, oder?

Kampf um die Wahrheit

Wer weiß. Wenn man regelmäßig beobachtet, wie vormals relativ offene Menschen sich in ihren Filterblasen verbarrikadieren, schwindet das Vertrauen schnell. Vielleicht wollen die Menschen, zumindest eine zahlenmäßig bedeutende Minderheit, solche Führer, in Fleisch und Blut wie digital. Doch selbst – nein gerade – die liberalste Gesellschaft darf ihnen diese Bequemlichkeit nicht erlauben. Dass es keine einfachen Antworten gibt, bedeutet nicht, dass es keine Wahrheit gibt (wie präzise die sich erkennen lässt, das wäre doch mal eine andere Frage). Aber eine Annäherung an Wahrheiten über komplexe Fragestellungen findet man nur im Ringen mit zahlreichen Antworten. Und zu diesem Ringkampf müssen die Menschen notfalls auch gezwungen werden. Der mündige Bürger, das vergessen auch viele Kantianer heute, fällt nicht zum Himmel. Er muss sich im Sinne des Wortes bilden. Dazu gehört, dass man die eigene Meinung nicht bis ins Letzte vorgekaut bekommt.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

More Posts - Website

Follow Me:
TwitterFacebook

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert