Das Leben in den Medien

Soziale Netzwerke, Chatrooms, Online-Fotoalben oder Foren: Das Internet wird zum Schauplatz permanenter Aufmerksamkeitssuche und Selbstdarstellung. Gastbeitrag von Sandra Selbach


Man versucht sich mittels diverser Aufmerksamkeitstechniken in Szene zu setzen und zu inszenieren. Die größte Aufmerksamkeit bekommt man durch Themen wie Sex, Gewalt, Skandale und Emotionen. Auch das Erniedrigen, also das Mobbing ist im Internet sehr beliebt. Ein jeder kann nach Belieben seinen Frust ausleben und auf dem Opfer seiner Wahl herumhacken, um sich selbst besser zu fühlen. Verbale Attacken fallen leichter, wenn man sich hinter dem Computerbildschirm oder dem Smartphone verstecken kann. Hinter einem Nickname oder einem gefakten Profil auf dem Sofa sitzend mit dem Laptop auf dem Schoß oder hinter dem Computerbildschirm versteckt zum Beispiel fällt alles gleich viel leichter. Unerkannt kann man seinen Trieben und Bedürfnissen frönen und ganz entspannt und ohne Skrupel bestimmten Menschen Dinge an den Kopf werfen, die man im realen Leben niemals jemanden ins Gesicht sagen würde. Sei es durch Kommentare unter den Beiträgen auf Facebook, sei es unter Online-Artikeln von Zeitschriften und vieles mehr.

Seelenstrips

Seelenstrips fallen im Internet leichter als im realen Leben. Viele Menschen zeigen dort ihr wahres Gesicht und gehen ihren geheimen Bedürfnissen nach. Es ist eine Parallelwelt, in welcher sich auch gerade die Menschen austoben können, die in der realen Welt eher wenig Beachtung finden. Man kann Menschen auf verschiedene Arten kontaktieren, die im realen Leben unerreichbar sind, indem man einen virtuellen Charakter erschafft und in die Rolle desjenigen schlüpfen kann, der man gerne sein möchte. Am Ende hat man Probleme, überhaupt wieder in den wahren Charakter zurückzufinden, denn die Parallelwelt ist doch so, wie man sie haben möchte. Es ist so einfach, der Realität zu entfliehen und sich in der Welt des World Wide Web zu verlieren, wenn man doch derjenige, der man ist, nicht sein möchte.

Die Folgen können laut der Wissenschaftler dramatische Veränderungen für die Kommunikation, für Beziehungen – und vor allem unser Denken sein. Die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht verliert an Bedeutung, Gestik, Mimik, Sprachmelodie – alles nicht präsent im Netz und auch für viele nicht mehr wichtig. Vieles wird fehlinterpretiert. Es ist doch viel einfacher, eine Kurznachricht zu schreiben, als eine persönliche Kommunikation, die sofortige Antworten fordert. Oder belanglos hin und her zu chatten. Und warum eine echte Beziehung mit nur einer Person in der Realität führen oder echte Freundschaften entwickeln, wo man doch tausende Menschen im Netz kennenlernen und vielleicht sogar real treffen kann. Dies suggeriert einem die Cyberwelt zumindest. Dass Eigensicht und Fremdsicht meilenweit auseinanderliegen, daran denkt kaum jemand. Dass man in der Realität nicht die Person ist, die man im Internet darstellt – auch daran denkt man nicht. Einen großen Teil seines Lebens, seines Verstandes und seiner Realität verliert man an die technischen Kommunikationsmittel.

Parallelwelt!

Die Parallelwelt im Netz nimmt einen größeren Stellenwert ein als das wirkliche Leben. Ich sehe täglich den Großteil der vorwiegend sehr jungen, aber mittlerweile auch viele der älteren Menschen nur noch mit einem Smartphone in der Hand. Ja, in der Hand! Nicht in der Tasche. Das ist selten und meist nur bei der älteren Generation so. Auf jeden Fall ist das Smartphone immer griffbereit und mit den Gedanken sind wir immer bei der Parallelwelt Internet. Das technische Kommunikationsmittel ist immer das erste, was auf den Tisch gelegt wird und was griffbereit ist, sei es in Biergärten, in Restaurants, in Kneipen, an allen öffentlichen Plätzen und zu Hause sowieso. Ein Gefühl leichter Panik entsteht, sobald man realisiert, dass das kleine Gerät zu Hause vergessen wurde. Man fühlt sich nicht vollständig. Im Minutentakt wird auf den kleinen Bildschirm gestarrt, es könnte jemandem ja eine Information entgehen, sei sie auch noch so unwichtig. Der Blick wandert kontinuierlich zum Kommunikationsmittel, auf jedes Geräusch wird geachtet, die Gedanken sind unterbewusst immer bei dem kleinen Stück Plastik und Metall. Ich schreibe hier aus Erfahrung, auch ich habe meine Lektionen gelernt, was die sozialen Netzwerke und den Chat angeht. Habe mich fast in der Cyberwelt ein Stück weit verloren, bis ich die Notbremse gezogen habe. Auch ich musste mich beleidigen, mobben, beeinflussen und auf primitivste Art und Weise anmachen lassen. Ich war fett und das hatte seine Gründe. Psychologische.

Cybermobbing

2015, nach der Veröffentlichung meiner Autobiografie über dieses Thema, „durfte“ ich unter diversen Online-Zeitungsartikeln lesen, dass ich eine „fette Sau“ war, die sich selbst nicht beherrschen konnte und alles in sich reingestopft hat. Und nur das Magenband hätte mich davon abgehalten, weiter zu fressen wie eine Wildsau. Von Sport hätte ich wahrscheinlich nie etwas gehört. Bäm! Wildfremde Menschen haben es sich angemaßt, anhand meiner Internetpräsenz meine Persönlichkeit, meinen Charakter zu beurteilen. Bis ich nicht mehr bereit war, mein Leben an eine unreale Welt zu verschenken, mich erniedrigen, als Opfer und reines Sexualobjekt degradieren und manipulieren zu lassen und wieder aktiv am Leben teilzunehmen. Denn das findet nicht im Internet statt. Das Internet hat uns natürlich auch ein ganzes Stück nach vorne gebracht, birgt unzählige Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen, erleichtert das Leben, indem man Ratschläge, Infos, Hilfe findet, die man sonst nicht so einfach bekommen könnte. Es beschleunigt. Dies hat auch viele Vorteile. Aber was gefährlich ist, ist eben diese Anonymität, hinter dem sich ein jeder verstecken kann. Wie schon weiter oben angesprochen. Ich feiere nun bald meinen 44. Geburtstag und finde die heutige Generation in Teilen ein bisschen merkwürdig. Wie bestimmt viele andere meines Alters auch.

Bye bye, reale Kommunikation

Die Kommunikation untereinander hat sich maßgeblich verändert und viele alte Werte sind nicht mehr wichtig, werden nicht mehr gelebt. Diese Verschiedenheiten der Generationen sind natürlich ein Stück weit normal, wir entwickeln uns weiter. Die Technik macht’s möglich. Aber irgendwie sind viele Dinge verlorengegangen, und das lässt uns ein wenig abstumpfen. Die Kommunikation erfolgt meist durch Technik und wenn man sich dann doch mal persönlich via Handy verabredet hat, dann sind die Gedanken oft bei eben diesem. Die Konzentration gilt nicht mehr nur dem Gesprächspartner. Die meiste Zeit des Tages verbringt man ohnehin mit dem Starren auf’s Mobilfunkgerät. Es mutierte zum Wichtigsten in der Welt der meisten Menschen. In einer Dokumentation wurden unter anderem Menschen auch befragt, ob sie heutzutage noch ohne ihr Gerät auskommen könnten. Und wenn es nur für eine Woche wäre. Die Antwort war nein. Niemand würde nur für eine Woche seine Parallelwelt aufgeben.

Abhängigkeit?

Ich bin fast sicher, dass man dies schon als psychische Störung bezeichnen kann. Die Psyche und das Denken der Menschen sind derart beeinflusst, dass ein Leben ohne Smartphone für die meisten nicht mehr vorstellbar ist. Selbst wenn sie nicht beruflich darauf angewiesen sind. Mein Gedanke ist nun, wohin uns das führen und inwiefern sich dadurch die Menschheit noch weiter verändern wird. Ich bin jemand, der gerne mit der Zeit geht, sich über alles Neue informiert und „up to date“ bleiben möchte. Ich möchte nicht hinterherhinken, als „die Alte“ gelten. Die Weiterentwicklung soll an mir nicht vorübergehen. Aber nichtsdestotrotz fühle ich mich manchmal so, als ob ich nicht wirklich hinterherkomme. Als ob ich zurückgeblieben bin in meiner Generation und ich nicht wirklich voll am heutigen Leben teilnehmen kann, da ich ja auch wie viele meiner Generation und auch der davor, noch andere Interessen habe und nicht so interessiert bin, die neuesten Apps runterzuladen und alles auszuprobieren, was neu auf den Markt kommt. Auch wenn man dieses „auf dem aktuellen Stand-sein“ mal ausblendet, bleibt immer noch die Gefahr, ein bisschen am Leben vorbeizugehen, indem man zu viel Zeit im World Wide Web verbringt. Werden wir das Ruder nochmal rumreißen können? Ich bin gespannt, wie sich alles weiterentwickelt.

Sandra Selbach

Sandra Selbach ist seit 1998 Mitarbeiterin eines großen Mobilfunkunternehmens und Autorin ihres autobiografischen Buches "Durch dick und dünn - Mein Weg aus der Fettsucht", in welchem sie ihre schwierige Kindheit und die dadurch entstandene Adipositas verarbeitet hat. Das Buch diente unter anderem als Therapie und Hilfte für andere fettsüchtige Menschen. Durch die Arbeit am Buch hat sie Gefallen am Schreiben gefunden und schreibt nebenher auch Blogs und nun ihre erste Kolumne. Die 43jährige lebt mit ihrem Partner in der Kleinstadt Euskirchen.

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