Blaue Perücke – eine Karnevalskolumne
Am Tag nach Weiberfastnacht geht Henning Hirsch auf die Suche nach den Wurzeln des Karnevals; landet zuerst bei einer babylonischen Hinrichtung und erreicht über die Zwischenstationen Ägypten und Rom schließlich den Kölner Alter Markt, wo er erschrocken ausruft: „Clowns gehören im 21sten Jahrhundert verboten!“
Während um mich herum entweder alle noch schlafen oder kotzend über der Kloschüssel hängen, die Nachbarn mir mit eineinhalb Promille Restalkohol im Treppenhaus entgegentorkeln, und am Hals der hübschen Kassiererin vom Aldi zwei fette Knutschflecke prangen, die sie gestern Morgen hundertpro noch nicht besaß, beschließe ich, den Freitagmittag nach der langen Weiberfastnachtsparty bestmöglich zu nutzen und was zum Thema Karneval zu Papier zu bringen. Dass dieses schöne Fest vor allem in katholischen Regionen gefeiert wird, sechs Tage dauert und an Aschermittwoch endet, wissen sicher auch die protestantischen Griesgrame und In-den-Skiurlaub-Flüchter.
Antike: einmal im Jahr ordentlich die Sau rauslassen
Die Wurzeln dieses schönen Brauchs, bei dem einige Tage lang die Klassengrenzen aufgehoben sind, reichen weit zurück. Waltari erzählt uns in seinem Roman Sinuhe vom Fest des falschen Königs, das alljährlich am Tag des Frühlings-Äquinoktiums in Babylon begangen wurde, an dem ein zufällig ausgewählter Fremder 24 Stunden lang den Platz des angestammten Herrschers einnahm und seinem Leih-Volk allerlei merkwürdige Aufträge erteilte, die ohne Murren zu erfüllen waren, was die Zuschauer sehr erheiterte. In dieser kurzen Zeitspanne war nahezu alles erlaubt, der Alkohol floss in Strömen, jede kopulierte mit jedem, ohne dabei einen Gedanken an Moral und Standeszugehörigkeit zu verschwenden. Beim ersten Hahnenschrei des darauffolgenden Morgens wurde der falsche König getötet, die Klassengrenzen wieder hochgezogen, alle kehrten verkatert an ihre Arbeitsplätze zurück und amüsierten sich prächtig darüber, wie verdattert der 24h-Monarch geschaut hatte, als ihn die Leibgarde zum Schafott führte, wo der Scharfrichter ihm mit einem sauberen Hieb den Kopf vom Rumpf abtrennte. Die Szene spielt im 14ten Jahrhundert vuZ. Eine Inschrift aus dieser Zeit lautet: „Kein Getreide wird an diesen Tagen gemahlen. Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleichgeachtet“.
Die Ägypter berauschten sich zu Ehren der Isis, die alten Griechen tanzten auf dionysischen Kostümpartys. Die Römer wiederum kannten die mehrtägigen Saturnalien, an denen man sich verkleidete, Schabernack und allerlei nicht jugendfreie Sachen trieb. All diesen Festen war eins gemeinsam: das unbedingte Gleichheitsprinzip, Mummenschanz, saufen und hemmungsloser Sex. Also die Aktivitäten, die der Kölner Volksmund mit „suffe, poppe, danze“ umschreibt.
Mit dem aufkeimenden Christentum war erstmal Schluss mit lustig. Der sittenstrenge Kirchenlehrer Augsutinus – der in seiner Jugend ein partyfeiernder Strolch gewesen war, bevor ihm wie Saulus die Erleuchtung kam, und er sich fortan mit Haut und Haaren der Verbreitung des neuen Glaubens verschrieb – wetterte unablässig gegen sämtliche weltlichen Vergnügungen und verdammte mit Inbrunst die Kostümorgien als besonders schlimmes Werk des Teufels. Dieses Verdikt hinderte die Menschen natürlich nicht daran, sich anlässlich der Vertreibung des Winters weiterhin zu verkleiden und „viel Unzucht zu begehen“. Bloß tat man das ohne den Segen der Kirche und riskierte viele Rosenkränze und im Wiederholungsfall sogar die Exkommunikation, wenn man sich dabei erwischen ließ.
Vom mittelalterlichen Mummenschanz zur Parodie auf Preußens Militär
Über die Zwischenstufen Narrenfeste/ Mummenschanz, Fasnaht und die während des Barocks in Mode kommende Freude am Tragen italienischer Masken, die an die Figuren der Commedia dell‘ arte angelehnt waren, gelangen wir im Schweinsgalopp zum Karneval der Neuzeit. Dessen Geburtsstunde in Deutschland schlug im Jahre 1823, als sich in Köln das Festordnende Comite zusammenfand mit dem Ziel, den lange Zeit verbotenen Straßenkarneval neu zu beleben und humorvolle Kritik an der fremden Obrigkeit (das Rheinland war 1815 Preußen zugeschlagen worden) zu üben.
Die Tage des rheinischen Frohsinns – und sämtlicher anderer Karneval, von Rio mal abgesehen, ist völlig uninteressant – heißen:
Weiberfastnacht/ Wieverfasteleer: die Frauen übernehmen die Macht. Schlipse werden als männliches Herrschaftssymbol gestutzt. Worüber sich einige Ortsfremde zwar aufregen. Ich wiederum bin der Meinung, dass eine beschnittene Krawatte weniger schmerzvoll ist als eine Zirkumzision. Um 11.11 reißen sich die Frauen die Mützen vom Haupt (sind dann nicht mehr unter der Haube) und erlauben sich bis weit nach Mitternacht allerlei Freiheiten.
Der Freitag dient der Erholung von Altweiber und hat – wie der Samstag und der Sonntag – keinen extra Namen erhalten. Am Sonntag laufen in Köln die Schull- un Veedelszöch, deren schönste Wagen und Truppen prämiert werden und als unmittelbare Belohnung am Rosenmontagszug teilnehmen dürfen.
Rosenmontag/ Rusemondaach. Die Herkunft dieses Namens ist bisher nicht abschließend geklärt. Am plausibelsten klingt die Rückführung auf das Kölner Verb „rosen“, das nichts anderes als „rasen, tollen“ bedeutet. Also: die am Montag losgelassenen/ rasenden Narren.
Der Dienstag heißt in Köln bloß Dienstag, während er in anderen Städten, die einzig an diesem Tag feiern, unter Namen wie Veilchendienstag, Mardi Gras oder Pancake day begangen wird. Am Abend verbrennen die Kölner den Nubbel (eine mannsgroße, bekleidete Strohpuppe), beerdigen den Karneval; die Hartgesottenen tanzen noch bis in die frühen Morgenstunden des Aschermittwochs, bevor sie sich entweder in der Kirche das Aschekreuz abholen oder in hausärztliche Behandlung begeben.
Als in Bonn geborener, in Köln aufgewachsener Rheinländer habe ich an schätzungsweise zwei Dutzend Karnevalssessionen teilgenommen, die – mit leichten Abweichungen – alljährlich wie folgt abliefen:
Blaue Perücke – ein Rosenmontagsgedicht
| Blaue Perücke
Stirn auf dem Tresen
vier Tage durch gefeiert
die Perücke verklebt
das Hemd voller Flecken
Hose zerrissen
ungeduscht
Bartstoppeln im Gesicht
Vor mir Bier und Schnaps
die ich ineinander mische
mit bleischweren Lidern glotze ich
ins prallgefüllte Dekolleté meiner Begleiterin
versuche, sie zu küssen
sie entwindet sich wie eine Schlangentänzerin
der Umarmung
Noch ein Jägermeister, mein Großer?
fragt sie mit hartem Akzent
ich nicke stumm
denn ich weiß
dass ich nicht mehr sprechen kann
Sie schmiegt sich an meine Schulter
drückt mir das Glas in die Hand
in einem Schluck stürze ich es runter
ihr Lächeln gefriert plötzlich
zu einem Raubtiergrinsen
ich tauche mit der Nase
in eine Bierpfütze
Dunkelheit
Als ich erwache
liege ich auf einem alten Grab
die Buchstaben längst verwittert
Stein halb im Boden versunken
ein Daunenanorak über dem
Piratenkostüm
damit ich nicht erfriere
blaue Perücke in einem
Azaleenstrauch
Schwerfällig rappele ich mich auf
durchwühle meine Taschen
Kohle weg, Kreditkarte futsch
ich kann mich nur schwach
an ihre grünen Haare
schwarz bemalte Lippen
und die schmale Reptilienzunge
erinnern
ansonsten: kompletter Filmriss
Soll ich die Bullen informieren?
wozu?
die können mir eh nicht helfen
ist halt dumm gelaufen um drei Uhr nachts
im Tiffanys
Welchen haben wir heute?
Rosenmontag
noch 36 Stunden Karneval
langsam setzte ich mich in Bewegung
wische die Friedhofserde von den Klamotten
stülpe die Perücke
über die fettglänzenden Haare
zu Hause habe ich zwei Hunderter
unter der Kaffeemaschine deponiert
die müssen reichen bis Aschermittwoch
Und dann?
schnelles Aschekreuz
und erstmal auspennen
© H.H.// 2010
Kurzer Karnevals-Knigge
Wenn man als zugereister Partytourist im Rheinland nicht ins Fettnäpfchen treten möchte, gilt es folgende Dinge UNBEDINGT zu beachten:
In Köln und Bonn ruft man Alaaf, während Düsseldorf und Mainz (das zwar am Rhein, jedoch nicht im Rheinland liegt) Helau brüllen. Alaaf kann man übersetzen mit: „Erst kommt Köln und dann kommt lange gar nichts“, was jedem Kölner sofort einleuchtet. Den Bonnern ist die wahre Bedeutung wahrscheinlich nicht präsent. Helau wiederum klingt eher dämlich.
Bonn und Düsseldorf haben ein Prinzenpaar, in Köln jubelt man dem Dreigestirn zu: Prinz, Jungfrau und Bauer … Weshalb im Jungfrauenkostüm ein Mann steckt, wollen Sie wissen? Keine Ahnung. Et is einfach esu. Man muss ja nun nicht alles und jeden hinterfragen.
Vorne auf dem Podium sitzt der Elferrat. Typen mit komischen Mützen, die den Charme von übermüdeten Taxifahrern versprühen und deren vier Hauptaufgaben darin bestehen, die Büttenredner anzukündigen, den Funkemariechen auf deren Knackärsche zu starren, Orden zu verleihen und das Publikum aufzufordern, „Alaaf“ zu schreien. Wären die elf Figuren alle gleichzeitig krank und verhindert, würde es niemandem großartig auffallen. Die Elf als Ziffer „1 neben der 1“ versinnbildlicht übrigens das Prinzip der Gleichheit. Falls das an dieser fortgeschrittenen Stelle der Kolumne überhaupt noch jemanden interessiert.
Liedgut und Büttenreden sind Legion. Hierauf im Einzelnen einzugehen, würde den Text sprengen. Man unterscheidet grob in die Kategorien „hervorragend/ Dauerbrenner“, „mittelmäßig/ Schenkelklopfer“ und „schlecht/ nur unter Zufuhr von ständig neuem Alkohol zu ertragen“. Karnevalssongs für die Ewigkeit sind beispielsweise: „Die Hüs’cher bunt om Aldermaat“ (Willi Breuer), „En d’r Kayjass Nummero Null“ (De vier Botze), „En de Weetschaff op d’r Eck“ (Bläck Fööss).
Während man bei „Mainz bleibt Mainz“ über weite Strecken meint, versehentlich einem Kostümtermin des rheinland-pfälzischen Landtags zugeschaltet zu sein, geht es auf den Sitzungen zwischen Rodenkirchen und Worringen schon derber zur Sache. Wer den kölschen Dialekt nicht beherrscht, tut sich schwer, den Witz der Redner zu verstehen und muss sich notgedrungen mit den Tanz- und Musikeinlagen begnügen. Und worüber die Düsseldorfer an Karneval lachen? Keine Ahnung. Fragt die Düsseldorfer.
Die Korps – oft Funken oder Garden heißend – kleiden sich überwiegend in Uniformen des späten 18ten Jahrhunderts und reiben beim Aufmarsch auf der Bühne gerne in Hockstellung ihre Hintern aneinander – nennt sich: „Stippeföttche“ oder „wibbeln“ –; eine Persiflage auf den preußischen Militärdrill. Der Tanzmajor stemmt seine Partnerin, die verniedlichend Funkemariechen genannt wird – obwohl sie eine ausgewachsene Jessica ist – , im Verlauf seiner Karriere 50.000 Mal in die Höhe, bevor er mit 35 den ersten Bandscheibenvorfall erleidet. Et jitt zodäm Speelmaanszöch, Akrobaten, Pantomimen und so weiter und so fort.
Wir halten fest:
▪ Die Ursprünge des Karnevals reichen bis in die Anfangszeit der menschlichen Zivilisation zurück
▪ Der Kerngedanke des Fests liegt in der zeitweiligen Gleichheit ALLER Bürger begründet
▪ Die Freude am Verkleiden wird stets begleitet von (übermäßigem) Alkoholgenuss und (promiskuitivem) Sex
▪ In der Neuzeit splittet sich der Karneval in vier Regionen auf: Alaaf, Helau, Rio und sonstige
▪ An Aschermittwoch ist alles wieder vorbei.
Dass sich Karneval von „carne vale (Fleisch lebe wohl!)“ ableitet, wussten vermutlich alle Leser schon. Falls nein, erwähne ich es der guten Ordnung halber am Ende der Kolumne.
Und nun schließe ich mit einem getippten 3x Kölle Alaaf!!!!
PS. dass die Kölner Geburtenrate im Spätherbst signifikant nach oben steigt, hat sich mittels einer vom Statischen Landesamt in Auftrag gegebenen Langzeituntersuchung als falsche Hypothese erwiesen, hält sich aber als Gerücht weiterhin hartnäckig.
PPS. Clownskostüme gehören im 21sten Jahrhundert verboten.
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