Heimat
Tina Schlegel macht sich in der Weihnachtszeit Gedanken über die Heimat und erkennt, dass dieser Begriff schon innerhalb ihrer Familie für jeden etwas anderes bedeutet
Ich war gerade beruflich in Hamburg bei einem Theaterfestival, als mein Vater starb. Er war in meiner Münchner Wohnung, um meine Katze zu hüten. Ein Anruf meiner Mutter, dass sie ihn nicht erreichen könne, erschreckte mich nicht sonderlich. Gewiss ist er spazieren, dachte ich. Doch einen Tag später war klar, dass etwas passiert sein musste. Der Hausmeister brach die Wohnung auf und fand meinen Vater, und ich stieg in ein Flugzeug nach München, nicht wissend, was mich erwarten würde. Als ich ankam, hatte er schon über einen Tag tot in meiner Wohnung gelegen. Er war bei den Tätigkeiten gestorben, die er am meisten geliebt hatte; etwas für seine Tochter zu tun– Wohnung und Katze gehütet – und Sport auf meinem Hometrainer zu zu betreiben.
Es hatte mich unvorbereitet getroffen, wobei mir bewusst ist, dass dieser Satz so eigentlich nicht stimmt. Dass unsere Eltern irgendwann sterben, in der Regel vor uns, ist kein Geheimnis. Mein Vater war zwar noch nicht sehr alt, aber auch nicht mehr jung, und wirklich vorbereiten kann man sich auf diesen Abschied ohnehin nicht. Anschließend musste alles schnell gehen, die Beerdigung organisiert, alle Freunde informiert werden, mein Elternhaus wurde geräumt und binnen Wochen verkauft. Keine Zeit zum Durchatmen, außer wenn ich auf diesem Hometrainer saß, was ich oft seitdem tue, immer auf der Suche nach den letzten Gedanken meines Vaters. Und eigentlich sollte dies ein Text über Heimat werden.
Abschied
Ich bin in einem Einfamilienhaus mit meinen Eltern aufgewachsen und nach dem Auszug meiner Mutter haben wir kurz überlegt, was geschehen soll. Für meinen Vater war dieses Haus alles, er wollte es unbedingt behalten. Mit Sätzen wie „mein Stück Erde“ oder „meine Heimat, die kann mir niemand nehmen“, konnte ich als Jugendliche nicht allzu viel anfangen. Ich wollte hinaus in die Welt, wollte studieren und Neues sehen, doch mein Vater blieb stur – und in diesem Haus. Immer und immer wieder sagte er, irgendwann würde ich das zu schätzen wissen und vielleicht doch in dieses Haus ziehen wollen, das so schön am Dorfrand lag mit Blick über Felder auf einen Wald und eine Kapelle. Allein es war für mich unvorstellbar, Heimat ein abstrakter Begriff, der auch mit dem konkreten Bild des Hauses vor Augen nicht greifbarer wurde. Und dann dachte ich immer: in einem Haus wachsen nicht nur die schönen Bilder, nein, es sind ja irgendwann auch die Abschiede, die sich häufen, die leeren Stühle am Tisch, die kleinen Gräber der verlorenen Haustiere im Garten, der Verlust der kindlichen Naivität, später der Verlust der Eltern oder Partner. Wäre es nicht gut, seine Orte regelmäßig zu erneuern? Hesse drängt sich auf, hüpft vor mir auf und ab und winkt mir zu: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“ aus seinem Gedicht „Stufen“ – auf wie vielen Geburtstagen wurde das wohl schon vorgetragen? Und so mischt sich in das Nachdenken über Heimat auch das Abschiednehmen. Ich ahne, weshalb sich der Tod meines Vaters bei meinem Nachdenken über Heimat ganz nach vorne geschoben hat. Heimat trägt Wehmut in sich, hat keinen Bestand ohne ihre Kehrseite: Verlust und das Verlassensein. Unser Haus wurde verkauft und ich verlor keine Träne.
Unterwegs
Denn ich war weit weg. Ich war unterwegs und bin es irgendwie seitdem immer. Während des Studiums dachte ich gar nicht sonderlich viel über Heimat nach, das Studium ist der Inbegriff des Unterwegs-Seins, des „bloß noch nicht ankommen“- Gefühls. In dieser Zeit wünschen sich die meisten – so auch ich – in der ganzen Welt zuhause zu sein, nicht dass ich viel gereist wäre, aber dieser Gedanke, alles kann passieren und alles kann großartig werden, der trägt uns. Man fühlt sich wohl, wo man gerade ist, Hauptsache die richtigen Leute sind um einen herum. Dann ein paar Umzüge in verschiedene Städte und schließlich München und viel Arbeit, eine Arbeit, die mich ganz in die Stadt und ihr Leben eintauchen ließ. Jahre später zog ich mit meiner Tochter wieder in die Kleinstadt meiner Kindheit zurück und sitze nun sechseinhalb Jahre später hier, schreibe diese Kolumne über „Heimat“ und überlege, was ich eigentlich sehen will, wenn ich von meinem Laptop aufblicke und aus dem Fenster schaue.
Umzingelt
Meine Tochter ist jetzt sieben. Bei einem unserer vielen Gespräche über Gott und das Leben und die Merkwürdigkeit des Sterbens sagte sie, dass sie glaube, Erinnerungen seien vielleicht wichtiger als Heimat. Ich habe lange darüber nachgedacht und wir sind bislang nicht dazu gekommen, gemeinsam darüber nachzudenken. Machen Erinnerungen nicht erst einen Ort zur Heimat? Und wenn ja, wann genau beginnt dann dieser Übergang von einem Ort zu einer Heimat? Wenn eine fremde Umgebung ihre Unheimlichkeit verliert im Freud’schen Sinne und heimelig wird? Vertraut, behütend? Ein Ort, wo wir sein können wie wir sein wollen, wo unsere Lieben sind, unsere Fantasien und Träume, ein Ort, den wir lieben und dessen Verlust uns Angst macht. Noch immer frage ich mich, ob Konstanz meine Heimat gewesen ist, weil ich dort so viel erlebt habe, das mich geprägt hat, oder doch eher das Jetzt und Hier, wo ich zusehe, wie meine Tochter so glücklich heranwächst? Erinnerungen sind wichtiger als Heimat, der Satz meiner Tochter umkreist mich, umzingelt mich, beschäftigt mich. Befinden wir uns in diesem Übergang? Sie wusste es nicht, in dem Moment, da sie den Satz aussprach, aber ich begreife, weshalb er mich nicht loslässt: Vielleicht bin ich gar kein Typ für ein Heimatgefühl, vielleicht habe ich es verpasst, vielleicht findet die Heimat mich aber schlichtweg nicht. Ich muss wohl vor allem daran glauben, dass ich dennoch eine „Heimat“ erschaffen kann für meine Tochter, eben aus allen meinen Erinnerungen.
Aufbruch
Bei einer der letzten Begegnungen mit meinem Vater war dieser sehr besorgt ob meiner Zukunft. „Das müssen wir jetzt doch irgendwie hinbekommen.“ Er nahm mich in den Arm und sagte: „Wir müssen dein Schiff aus dem Hafen bekommen, damit es richtig in See sticht.“ Das war ungewohnt. Mein Vater war kein Freund großer Worte und schon gar nicht von solchen Metaphern, aber einige Jahre später nun denke ich, dass er in diesem Moment begriffen hat, dass seine Heimat nicht meine werden würde. Er hat mich damit aus der Pflicht entlassen und sich sogar bereit erklärt, mich bei meinem Aufbruch zu unterstützen. Das war im Grunde mehr Heimatgefühl, als ich je an einem Ort werde finden können – dieses tiefe Einverständnis, dem anderen auch beim Weggehen zu helfen. Kurz vor Weihnachten hätte er Geburtstag gefeiert.
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