Parallelwelten aus Argentinien
Zu Weihnachten reaktiviert Sören Heim die „Fantastische Reise“. Im Fokus steht heute ein vielschichtiger Fantasy-Roman aus Argentinien.
Rund um Weihnachten haben die Leute Zeit zu lesen. Ein guter Moment, um die fantastische Reise für eine Sonderausgabe wiederzubeleben. Da trifft es sich doch gut, dass ich in meiner Lateinamerikanischen Literaturgeschichte einen Text entdeckt habe, der den deutschen Lesern relativ unbekannt sein dürfte. Kalpa Imperial von Angélica Gorodischer wird dort zwar als Science Fiction beschrieben, was mich dann doch ein wenig an der Qualität des dem Augenschein nach ordentlichen Geschichtswerks zweifeln lässt. Und auch ob die Bezeichnung Roman zutrifft, wäre zu diskutieren. Aber Kalpa Imperial ist als unorthodoxe Fantastik in jedem Fall einen Blick wert, zumal die gar nicht zu hoch einzuschätzende Ursula K. Le Guin die englischsprachige Übersetzung besorgt hat.
Sammlung von Erzählungen?
Kalpa Imperial kommt als Sammlung unzusammenhängender Erzählungen daher, die alle innerhalb der unklaren Grenzen eines bis zuletzt unbenannten Imperiums spielen. Lose zusammengehalten wird das Ganze durch die Fiktion des Geschichtenerzählers, der in den Straßen und auf den Plätzen der Hauptstadt dem Volk von vergangenen Tagen des Imperiums berichtet. Entsprechend ist der gesamte Text von Merkmalen der fingierten Mündlichkeit durchzogen, Leseransprachen, Relativierungen, Antworten auf nur implizit gestellte Fragen. Auch das ein oder andere Epitheton kommt vor.
Die einzelnen Erzählungen variieren stark in ihrer Machart. Den Auftakt markiert eine wortgewaltige Parabel von den Anfängen oder Wiederanfängen des Imperiums. Da gibt es ein Dorf nahe einer Stätte uralter Ruinen. Die Menschen leben von der Hand in den Mund, bis ein mutiger Junge immer neue magische Gegenstände aus den Ruinen zu Tage fördert, sich schließlich in der größten Ruine einrichtet und sich zum Herrscher über die anderen aufschwingt. Das Imperium wird geboren. Erzählt wird diese kurze Passage in einem von Adjektiven überbordenden Stil gereihter Endlossätze, der ein wenig an Garcia Marquez‘ Der Herbst des Patriarchen erinnert und im spanischen Original von einer grandiosen Rhythmik und Melodiösität getragen wird. Einige weitere Erzählungen sind ähnlicher Natur, eher bilderreiche, elaborierte Chroniken als für sich stehende Geschichten mit einer Handlung, wie man sie heute von Filmen gewohnt ist. Hier und da schaltet der Geschichtenerzähler zusätzlich fingierte Augenzeugenberichte über die Tugenden und Laster der jeweils betrachteten Herrscher ein.
Der geheimnisvolle Süden
Andere Erzählungen sind so aufgebaut, dass sie auch ohne den größeren Kontext des Buches genossen werden können. Besonders heraus ragt die kurze Geschichte des Kuriositätshändlers Drondlann, der nach Begegnungen mit diversen Fabelwesen, sechsbeinigen Drachen, Chimären, einer Libelle, mit der er versucht eine Liebesgeschichte anzuknüpfen (!), schließlich einen stummen Jungen erwirbt, der tanzen kann. Das scheint unerhört innerhalb der Grenzen des nördlichen Imperiums, wo man sogar das Wort „tanzen“ für eine Erfindung hält. Mittels seines Tänzers intrigiert Drondlann gegen einen der Granden der Hauptstadt und erobert sich schließlich dessen soziale Stellung.
Im Süden des Imperiums dagegen scheint Tanz ein Ritual zu sein, das die gesamte Gesellschaft strukturiert. Das erfahren wir in der Erzählung “Down There in the South”, als ein Mörder aus dem Norden in den Süden flieht und dort in die Rolle eines Propheten und Befreiers gedrängt wird. Der Süden befindet sich halb und halb in kolonialer Abhängigkeit vom Norden, erkennt das Imperium aber nicht an und scheint eher in der Vorstellung des Nordens als in der Realität militärisch unterworfen zu sein. Durch alle Zeiten, über die Kalpa Imperial berichtet, bleibt er größtenteils Terra incognita.
Tiefere Zusammenhänge
Kann man Kalpa Imperial nun mit Fug und Recht als Roman bezeichnen? Oder ist es doch in erster Linie eine Kurzgeschichtensammlung, der ein gemeinsames Universum zu Grunde liegt? Auf den ersten Blick ganz klar Zweiteres. So unterschiedlich sind die Zeiten und oft auch die Orte, an denen die Geschichten spielen (ja, manchmal zweifelt man, dass die überhaupt innerhalb der selben Realität angesiedelt sind), dass es schwer ist, mehr als rudimentäre Verbindungslinien auszumachen. Das frustriert besonders angesichts manch schwächerer Erzählung (denn die gibt es auch). Da fragt man sich dann: Warum lese ich überhaupt weiter? Warum springe ich nicht zum nächsten Text? Je weiter man aber liest, desto faszinierter realisiert man, wie sich die Welt von Kalpa Imperial zusammenfügt. Da gibt es dann eben doch Konstanten. Die fast magische Funktion des Tanzes, das Verhältnis zum Süden, die immer wiederkehrende Frage nach Realität und Möglichkeit von gerechter Herrschaft, das Kreisen aller Geschichten um Vergänglichkeit und nicht zuletzt die Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis der Geschlechter zueinander, ob nun im Vordergrund stehend wie etwa in der Erzählung Portrait of the Empress, die Kaiserin, die sich skrupellos aus der Gosse bis auf den goldenen Thron vorkämpft und zu einer strahlenden Herrscherin wird, oder eher hintergründig in Gestalt mancher Nebencharaktere (ausgerechnet die Kauffrau Mistress Assyi’Duzmaül, die als schlagfertige Seidenhändlerin die männliche Belegschaft einer Karawane in der Erzählung The Old Incense Road staunen macht, entpuppt sich im Nachhinein als verkleideter Mann).
Tatsächlich gelingt es Gorodischer mittels ihrer in Raum und Zeit fragmentierten Erzählweise, ihren fiktiven Staat sehr viel glaubhafter vor Augen zu führen, als dies mancher, dem klassischen Worldbuilding verpflichteten, Fantasytext vermag. Zwei Tricks helfen ihr dabei, die ich schon einmal generell als beinahe Notwendigkeit des fantastischen Erzählens postuliert hatte: Fluide Geographie und fluide Zeitlinien. Besonders in den längeren Stories erzählt Gorodischer so, als lebte der Leser selbst in dem namenlosen Imperium. Lokalitäten, spirituelle Konzepte, Personen werden angeschnitten und wieder fallen gelassen; ähnlich wie man etwa in einem Roman über das Berlin der Zwanziger den Namen Stresemann fallen lassen könnte, ohne erst lexikonartig erklären zu müssen, wer dieser Mann eigentlich war. An anderer Stelle werden diese Dinge dann vielleicht wieder aufgegriffen oder auch nicht. Und kaum je berichten zwei Geschichten auch nur einmal das Gleiche über einen Sachverhalt. Der Leser füllt sich die gigantischen Lücken, die Kalpa Imperial lässt, selbst; die Welt scheint zu wachsen, zu leben, zu atmen, und unter den neugierigen Blicken des Lesers schon wieder zu zerfallen. Von diesem Imperium gibt es keine fein säuberlich gezeichneten Karten, und keine ausgearbeiteten Chroniken, die man en Detail auf Wikipedia nachlesen könnte. Gerade das lässt sie glaubhaft erlebbar werden, im krassen Gegensatz zu manch anderer zeitgenössischer Baukasten-Fantasywelt. Um das Leseerlebnis (das übrigens Ähnlichkeiten zu Le Guins erstem Earthsea-Roman aufweist) vollends zu genießen, darf man kein Cherry Picking unter den einzelnen Geschichten betreiben. Daher ist Kalpa Imperial als in sich geschlossenes Werk zu betrachten.
Rätsel ohne Lösung?
In seiner Rätselhaftigkeit erinnert Kalpa Imperial manchmal an Borges oder an Italo Calvinos Die unsichtbaren Städte. Dieser Vergleich wurde in der Vergangenheit bereits gezogen. Allerdings sollte man es damit nicht übertreiben. Wo Calvino sich tatsächlich in erster Linie als Erbauer von Luftschlössern gefällt, ist das in Gorodischers Werk nur ein Nebeneffekt. Und wo bei Borges in jeder Zeile die Rätselhaftigkeit im Vordergrund steht, ja teils penetrant aufdringlich wirkt, bleibt es bei Kalpa Imperial eher rätselhaft, ob es hinter den Geschichten aus dem Imperium noch im Sinne einer Parabel etwas zu entschlüsseln gilt. Den Verdacht nährt vor allem die Schöpfungsgeschichte, die in The Old Incense Road als Binnenerzählung ausgebreitet wird. Hier mischt der Führer der Karawane – durch spanische Schreibweise sanft verklausuliert – griechische Epik, Hollywood-Filme und Hollywoodtratsch sowie europäische Geschichte zu einem herrlich absurden Mythos der Zeiten vor der Gründung des ersten Imperiums. Lassen sich auch die später angesiedelten Geschichten des Erzählers vielleicht auf solche „modernen Mythen“ zurückführen? Ich habe bei der Lektüre keine Anhaltspunkte gefunden, mag es aber nicht ausschließen. Ob das vorteilhaft wäre? Oder ob es nicht doch das im Großen und Ganzen stimmige Werk ein bisschen zu sehr in Richtung des Absurden verschieben würde?
Ich kann der Leserschaft nur nahe legen, selbst nachzuforschen. Wobei die Warnung gestattet sei: Kalpa Imperial ist sicherlich kein Buch für jeden Geschmack. Es ist sprachlich teils sehr anspruchsvoll, einige der Erzählungen fallen gegenüber dem Rest deutlich ab, und die Erfahrung der Zusammengehörigkeit des Ganzen stellt sich erst relativ spät ein, wenn der/die ein oder andere bereits die Lust verloren haben könnte. Es ist aber auch definitiv einer der besseren Texte, die ich im Rahmen der fantastischen Reise besprochen habe.
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