Shortlist-Rezensionen: I – Das Floß der Medusa
Bis zur Verleihung des Deutschen Buchpreises am 9. Oktober bespricht Sören Heim hier so viele Shortlistkandidaten wie möglich.
Franzobels Das Floß der Medusa ist eines der lesenswerteren Bücher des Jahres. Entgegen einiger anders lautender Rezensionen keineswegs von „barocker“ Sprache überbordend. Wem das relativ einfache Deutsch dieses Romans schon zu kompliziert ist, der sollte das Lesen lassen und vielleicht lieber mit Bauklötzen spielen.
Schiffbruch geht immer!
Einer der Gründe, warum sich das Buch fast von selbst liest, ist natürlich das Thema. Abenteuer zur See und Schiffbruch gehen immer, auch ein mittelmäßiger Autor kann daraus ein ordentliches Werk machen. Aber: thematisch zwingt Franzobel den Vergleich mit Peter Weiss auf – und kann dabei durchaus bestehen. Man hat nicht das Gefühl, eine mindere Wiederkehr eines großen Themas zu konsumieren. Das drastische, leicht melodramatische Aufeinanderprallen von Armut und Reichtum, von Revolution und Restauration erinnert streckenweise an Victor Hugo. Obschon man hier eigentlich nur verlieren kann, gibt Franzobels Erzählung auch beim Vergleich mit dem französischen Romancier eine gute Figur ab.
Einige Schwächen hat Das Floß der Medusa. Da sind die vollkommen unnötigen und unmotivierten Vorgriffe des Erzählers auf die heutige Zeit (etwa sieht ein Offizier aus „wie Alain Delon“, die Matrosen fürchten sich vor Davy Jones aus Fluch der Karibik). Wären die Anleihen an unsere Gegenwart wenigstens konsequent gesetzt, so ließe sich nach Gründen für diese Vorgehensweise fragen. Aber alle fünfzig Seiten mal eine einzelne Einstreuung lässt die Sache sowohl modernistisch bemüht als auch undurchdacht wirken.
Distanz? Oder Authentizität?
Dann, damit verbunden, der Gebrauch des Wortes „Neger“. Das führen historisch wohl korrekt die Protagonisten im Munde und in ihren Gedanken, es wird aber im Text stets in Anführungszeichen gesetzt. Wieso? Denken die Protagonisten in kritischer Distanz zu ihrer eigenen Sprache? Und wenn ja, warum werden andere rassistische Begriffe dann nicht in Anführungszeichen gedacht? Entweder verzichte ich historisch plausibel auf politische Korrektheit, oder ich verfremde didaktisch. Franzobels Kompromiss erreicht das Schlechteste aus beiden Welten: Die Worte bleiben, die Darbietung wirkt verdruckst, nicht in Anführungszeichen gesetzte Rassismen werden geadelt.
Zuletzt: während es dem Roman anfangs gut gelingt, die historisch verbürgten Ereignisse mit der fiktiven Handlung an Bord des Schiffes zu verknüpfen, klappt es jedoch nicht, die entscheidenden Fehler bei der Kurssetzung der Medusa narrativ überzeugend zu erklären. Wann immer das Verhängnis durch die Dummheit der Besatzung bzw. des Kapitäns und seiner rechten Hand vorangetrieben wird, liest sich der Roman, als wisse der Autor auch nicht ganz genau, wie man eigentlich so eine Scheiße bauen konnte. Der die erste Hälfte des Werkes bestimmende Konflikt zwischen Küchenjunge Viktor, dem älteren Gaines und dem Koch Clutterbucket überzeugt in der zweiten Hälfte immer weniger. Im Vordergrund steht nun die existenzbedrohende Situation auf dem Floß, sodass man die Auseinandersetzung der drei Besatzungsmitglieder vielleicht besser hätte fallen lassen, anstatt sie zwanghaft weiterzuführen und den im Chaos doch so einfachen Mord an Viktor aufgrund ständig neuer, unerwarteter Zwischenfälle immer wieder aufzuschieben.
Dennoch: Das Floß der Medusa ist eine unterhaltsame Lektüre. Vielleicht ein bisschen zu massentauglich, als dass man dem Roman zutrauen dürfte, am Ende den Buchpreis einzuheimsen.
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