Zwischen Ararat, Istanbul und Rio de Janeiro

Nachdem Ulf Kubanke sich zeitgenössischer türkischer Musik gewidmet hat wirft Sören Heim einige Schlaglichter auf Klassiker türkischer Literatur.


Der andauernde Fokus auf die Türkei ist vielleicht kein Grund, doch willkommener Anlass, sich mal mit türkischen Schriftstellern jenseits des dauerpräsenten Orhan Pamuk zu beschäftigen. Einige Buchempfehlungen:

Yaşar Kemal

Yaşar Kemals Auch die Vögel sind fort ist eine übersichtliche, bildreiche kurze Novelle, die um das junge Unternehmertum des Vogelfangens kreist, für das Kinder massenweise Vögeln Fallen stellen, um diese an Gläubige zu verkaufen, die die Tiere mit einem Gebet wieder in den Himmel entlassen. Das Paradoxon der „gerechten Wut“ der selbst diffus religiösen Jugendlichen auf die immer modernere Istanbuler Bevölkerung, die herzloser Weise die Vögel nicht mehr befreien will und der gleichzeitigen Ausblendung der eigenen Grausamkeit durchzieht das Werk. Hier wie auch im deutlich ausführlicheren Das Lied der tausend Stiere spielt Kemal mit Charakteren, die beinah noch Archetypen sind in einer Welt die sich zusehends das Individuum auf die Fahne schreibt. Statt von magischem Realismus ließe sich hinblicklich des Stils vielleicht am besten, besonders im Fall der tausend Stiere, vom „entwurzeltem Mythologisieren“ sprechen. Das führt zu interessanten Wendungen dahingehend, dass man etwa mit dem vom Staat gegängelten, geknechteten,vertriebenen und getöteten Nomaden herzlich mitleidet, im nächsten Moment aber doch dem Liebespaar, das dem Stamm in die Arme genau dieses kemalistischen Staates entflieht, nur das Beste wünschen mag. Sprachlich ist Kemal ein großer Meister, auch in der Komposition lückenlos, wobei auffällt, dass er sich zumindest vordergründig an relativ einfache Plots hält, was in den längeren Werken tendenziell zu Wiederholungen und Stillstand führen kann.

Adalet Ağaoğlus

Thematisch und auch in der Umsetzung eines der interessanteren Werke meiner jüngeren Lektüre war Adalet Ağaoğlus Sich hinlegen und sterben. Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben einer „emanzipierten“ Frau zwischen dörflicher Jugend und Universitätslaufbahn werden rückblickend unterschiedliche andere Lebensentwürfe früherer Mitschüler gegenübergestellt. „Emanzipiert“ durchaus in Anführungszeichen, um die Zwiespältigkeit des Emanzipiert-Seins und Emanzipiert-Werdens in der frühen türkischen Republik einzufangen. Denn vom vor allem äußerlichen Zwang von Tanzveranstaltungen in der Jugend, bei denen der Lehrer als offiziellen Bildungsauftrag Jungs und Mädels drängt sich auch ja ordentlich zu berühren über Kopftuchverbote bis hin zu späteren internalisierten Zwängen mit Jungs offenherzig zu verkehren, das Haar französisch kurz zu schneiden oder vor dem Kuss in der Öffentlichkeit nicht zurückzuschrecken, wird in Sich hinlegen und sterben die kemalistische Emanzipation durchaus selbst wiederum als Zumutung erfahren.

Sich hingegen und sterben ist auch erzählerisch gelungen in der Art und Weise wie zahlreiche kleine Episoden verwoben werden. Obschon ausgerechnet die titelgebende Rahmenhandlung von derartiger Lächerlichkeit ist, dass man sie auch hätte weglassen können.

Faszinierend übrigens, wie Kemals Anatolische Epen und Ağaoğlus modernes Ankara historisch in derselben Zeit einzuordnen sind.

Aslı Erdoğan

Der derweil formvollendetste mir bekannte türkischer Roman ist Aslı Erdoğans Die Stadt mit der Roten Pellerine. Eine Aussteigerzählung aus Rio de Janeiro, darin eine junge gebildete Türkin zwischen Partys, Gangwars, Sex und Selbstzweifeln etwas – das Leben? Den Tod? Sich selbst? – sucht – oder flieht. Die Doppelkonstruktion, nach der die Protagonistin gleichzeitig einen Roman mit ganz ähnlichen Erlebnissen verfasst mag ein wenig klischeehaft anmuten, ist aber meisterhaft exekutiert. Die vielen kleinen Verschiebungen, die auf Mechanismen der Selbst- und Fremdwahrnehmung, der Anverwandlung und Exotisierung hinweisen, das unglaubliche Tempo, und selbst noch der allzu runde Schluss, in dem der Tod im „Roman im Roman“ verpackt und das Leben in Erdoğans Text fortgeführt wird, sind so souverän durchgeführt, dass es nicht stören sollte, dass ähnliche Textperimente natürlich längst Legion sind.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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