Über die Demontage der Demokratien – Welche Lehren hinterlässt uns die erste Hälfte des XX. Jahrhunderts?
Welche Auswirkungen kann die Wahl Donald Trumps zum US- Präsidenten auf das amerikanische System von „checks and balances“ haben? Lassen sich Parallelen zwischen den heutigen amerikanischen Entwicklungen und der Erosion der europäischen Demokratien in den 1930er Jahren ziehen? Diesen Fragen, die die Medien seit vielen Monaten beschäftigen, ist auch diese Kolumne gewidmet.
Nach dem Sieg Donald Trumps bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen warnte der amerikanische Historiker und Totalitarismusforscher Timothy Snyder seine Landsleute davor, die Fehler vieler Europäer zu wiederholen, die seinerzeit nicht imstande gewesen waren, die Demontage der demokratischen Systeme in ihren jeweiligen Ländern zu verhindern. Für diesen Zweck verfasste Snyder ein kleines Büchlein mit dem vielsagenden Titel „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“. Dort schreibt er z. B. Folgendes:
Wir Amerikaner sind heute nicht klüger als die Europäer, die im 20. Jahrhundert erleben mussten, wie die Demokratie dem Faschismus, dem Nationalsozialismus oder dem Kommunismus wich. Unser einziger Vorteil ist der, dass wir aus ihrer Erfahrung lernen können. Dafür ist es jetzt an der Zeit.
Besonders eindringlich warnt Snyder vor dem blauäugigen Glauben an die Festigkeit der althergebrachten demokratischen Institutionen, die angeblich stabil genug seien, um jeden Angriff ihrer radikalen Gegner zu überstehen:
Der Fehler liegt in der Annahme, Machthaber, die durch die Institutionen an die Macht kamen, könnten genau diese Institutionen nicht verändern oder zerstören – selbst wenn sie angekündigt haben, genau das zu tun.
Russland als europäischer „Sonderfall“?
Dieser Glaube stellte in der Tat eine Art Axiom für viele Europäer in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen dar. Die Tatsache, dass die Bolschewiki im Januar 1918 die demokratisch gewählte Verfassunggebende Versammlung mit ihrer großen nichtbolschewistischen Mehrheit gewaltsam zerschlagen hatten, wurde im restlichen Europa in der Regel nicht als Warnung aufgefasst. Russland galt im Allgemeinen als europäischer „Sonderfall“. Man ging davon aus, dass die innerrussischen Entwicklungen für den Rest des Kontinents so gut wie keine Relevanz hätten. Der Kultursoziologe Alfred Weber schrieb z.B. im Jahre 1925, dass die bolschewistische Herrschaft die Re-Asiatisierung Russlands zur Folge gehabt habe. Russland habe nur zeitweise und versehentlich der europäischen Staatengemeinschaft angehört. Sein Wiederausscheiden aus Europa sei seine Rückkehr zu sich selbst.
Als Weber diese Worte schrieb, bahnte sich gerade in Deutschland eine Katastrophe an, die den gesamten europäischen Kontinent in einen noch tieferen Abgrund stürzen sollte, als dies die bolschewistische Revolution getan hatte. Die russische Katastrophe von 1917/18 stellte also nicht nur ein Symptom der russischen, sondern auch der gesamteuropäischen Krise dar. Darüber war sich z. B. der russische Historiker Georgij Fedotow bereits im Jahre 1918 klar. Er schrieb:
Die Welt ist womöglich nicht imstande, ohne Russland zu existieren. Die Rettung Russlands ist die Aufgabe der gesamten Weltkultur als solcher.
Der Fortschrittsoptimismus der „goldenen“ Zwanziger Jahre
Nach der Überwindung der Nachkriegskrise Mitte der 1920er Jahre erreichte der Glaube vieler Europäer an die Festigkeit der demokratischen Institutionen in West- und Mitteleuropa seinen Höhepunkt. Der Siegeszug der Diktaturen in Italien, in Osteuropa und auf der Iberischen Halbinsel erschütterte diesen Glauben kaum. Man führte das Scheitern der Demokratien in diesen Ländern bzw. Regionen auf deren wirtschaftliche und politische Rückständigkeit zurück. Die hochentwickelten Industrieländer Mittel- und Westeuropas waren hingegen aus der Sicht der Verfechter des parlamentarisch-demokratischen Systems gegen diktatorische Versuchungen jeder Art immun. Charakteristisch für diese Denkweise war die Aussage des belgischen Sozialisten Émile Vandervelde vom Sommer 1928:
Wenn man ohne Rücksicht auf die politischen Grenzen eine Linie von Kowno (Litauen – L.L.) über Krakau und Florenz nach Bilbao zieht, steht man vor zwei verschiedenen Erdteilen Europas: der eine, wo die Pferdekraft herrscht, der andere, wo das wirkliche Pferd gebietet. Eines, wo es Parlamente gibt, das andere, wo Diktaturen an der Macht sind … Ausschließlich in diesem zweiten Europa, das wirtschaftlich und politisch rückständig ist, entstehen immer mehr Diktaturen, mehr oder weniger brutal, mehr oder weniger scheinheilig, mit oder ohne den Schleier einer Volksvertretung.
Zu den wenigen Skeptikern im Lager der europäischen Sozialdemokraten, die den Fortschrittsoptimismus ihrer Gesinnungsgenossen zu dämpfen versuchten, gehörten manche italienische Sozialisten, die die Meinung vertraten, dass der Sieg des italienischen Faschismus eine paradigmatische Bedeutung nicht nur für den „rückständigen“ Teil Europas, sondern auch für den gesamten europäischen Kontinent als solchen hatte. Ihr Pessimismus wurde indes von den Verfechtern des Fortschrittsglaubens in Mittel- und Westeuropa nicht geteilt.
Der Glaube an die Macht der bestehenden Institutionen nach dem 30. Januar 1933
Stellte die nationalsozialistische Machtübernahme im industriell hochentwickelten Deutschland insoweit eine Zäsur dar? Zunächst war dies erstaunlicherweise nicht der Fall. Die ersten Reaktionen der deutschen und der europäischen Öffentlichkeit auf die Ereignisse vom 30. Januar 1933 waren recht gelassen. Der Glaube an die Macht der bestehenden Institutionen wurde kaum erschüttert. Man war im Allgemeinen davon überzeugt, dass diese Institutionen dem Umgestaltungswillen der Nationalsozialisten unüberwindliche Schranken in den Weg stellen würden. Timothy Snyder zitiert folgende Sätze aus einer deutsch-jüdischen Wochenzeitschrift vom 2. Februar 1933:
(Wir sind) keineswegs der Meinung, daß Herr Hitler und seine Freunde, einmal in den Besitz der lange erstrebten Macht gelangt … kurzer Hand die deutschen Juden ihrer verfassungsmäßigen Rechte entkleiden, sie in ein Rassen-Ghetto sperren …werden. Das können sie nicht nur nicht, weil ihre Macht ja durch eine ganze Reihe anderer Machtfaktoren vom Reichspräsidenten bis zu den Nachbarparteien, beschränkt ist, sondern sie wollen es sicherlich auch gar nicht; denn die ganze Atmosphäre auf der Höhe einer europäischen Weltmacht, die ja mitten im Konzert der Kulturvölker stehn und bleiben will, … ist der ethischen Besinnung auf das bessere Selbst günstiger als die bisherige Oppositionshaltung.
Ähnlich optimistisch klangen damals auch die Worte des Redakteurs der liberalen „Frankfurter Zeitung“, Benno Reifenberg. Er bezeichnete es als
„eine hoffnungslose Verkennung unserer Nation zu glauben, man könne ihr ein diktatorisches Regime aufzwingen“: „Die Vielfältigkeit des deutschen Volkes verlangt die Demokratie“ (zit. nach Volker Ulrich, ZEIT Online 30.1.2017)
August Thalheimers Prognosen
Zu den wenigen Analytikern von damals, die sehr früh das Ausmaß der Katastrophe erkannten, die nach dem 30.1.1933 eintrat, gehörte der kommunistische Dissident August Thalheimer, der 1928/29 aus der KPD und aus der Komintern ausgeschlossen wurde und gemeinsam mit einigen Gesinnungsgenossen eine Organisation gründete, die den Namen KPD-Opposition (KPO) trug.
Die damals sowohl in den kommunistischen als auch in den bürgerlichen Kreisen verbreitete Überzeugung, dass die konservativen Kräfte (Reichswehr, Deutschnationale Volkspartei, Stahlhelm usw.) auf die NSDAP einen mäßigenden Einfluss ausüben würden, wies Thalheimer als Illusion zurück.
Thalheimer bezeichnete die konservativen Gruppierungen als den schwächeren Partner in der Allianz, die nach dem 30.1.1933 in Deutschland entstanden war. Er erkannte, dass das nächste Ziel Hitlers die Ausschaltung seiner konservativen Partner aus der Regierung und die Alleinherrschaft der NSDAP war. Hitler verfüge gleichzeitig über eine Massenorganisation und über die Exekutivgewalt. Die Exekutivgewalt werde er gegen alle seine Gegner außerhalb der Regierung ausspielen und deren Organisationen auflösen und vernichten, andererseits würden seine Massenorganisationen und seine Volkstümlichkeit dazu verwendet werden, auf seine konservativen Koalitionspartner, die sich nicht auf Massenbewegungen stützen könnten, Druck auszuüben. Die Wahlen vom 5.3.1933 hätten zum Ziele, der nationalsozialistischen Machtübernahme eine „Volksweihe“ zu geben und die Deutschnationalen so nachhaltig wie möglich zu schwächen, was ihren Ausschluss aus der Regierung erleichtern würde.
Besonders intensiv setzte sich Thalheimer mit manchen Illusionen auseinander, die in der damaligen Komintern verbreitet waren, z.B. mit der Erwartung, Hitler würde wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Nichterfüllung seiner Versprechungen gestürzt werden. Diese Hoffnung hielt Thalheimer für völlig unbegründet. Die Tatsache, dass Hitler sowohl die Exekutivgewalt als auch seine Massenorganisationen im politischen Kampf einsetzen könne, bedeute, dass er jeden Konflikt zu seinen Gunsten lösen werde. Die Kontrolle über den Staatsapparat ermögliche ihm das ruhige Abwarten des nächsten Konjunkturaufschwunges. Darüber hinaus sei die Enttäuschung der Massen über den Nationalsozialismus ohne Bedeutung, solange diese Massen unorganisiert, eingeschüchtert und ohne Führung und Ziel seien.
Auch eine andere Hoffnung der Kominternführung wurde von Thalheimer schonungslos als Illusion dargestellt. Die Kominternführer behaupteten nämlich, die Herrschaft des Nationalsozialismus werde wegen der Stärke der deutschen Bourgeoisie und des deutschen Proletariats milder als die Herrschaft des italienischen Faschismus, und daher nicht von Dauer sein. Hitler habe nicht wie Mussolini seinen „Marsch auf Rom“ organisieren können, sondern habe mit der Bourgeoisie Kompromisse schließen müssen, weil er schwächer als Mussolini gewesen sei.
In Wirklichkeit verhielten sich die Dinge genau umgekehrt, meinte Thalheimer. Der Nationalsozialismus sei organisatorisch viel stärker als der italienische Faschismus. Die italienische Bourgeoisie hätte größere politische Erfahrung als die deutsche und hätte sich stärker zur Demokratie bekannt. Deshalb habe der Faschismus sie gewaltsam unterdrücken müssen.
Hitler dagegen habe keine Gewalt anwenden müssen. Die deutsche Bourgeoisie habe ihn selbst gerufen. Es sähe so aus, als ob der Nationalsozialismus nur Monate zur Eroberung der Alleinherrschaft brauchen werde, wofür Mussolini Jahre gebraucht habe. Die bürgerlichen Parteien würden in Deutschland viel schneller als in Italien vernichtet werden.
Auch der Hinweis auf die größere Stärke des deutschen Proletariats beruhe auf einer Illusion, so Thalheimer. Die italienische Arbeiterbewegung sei relativ stark gewesen und habe jahrelang erbittert gegen den Faschismus gekämpft.
Die deutsche Arbeiterbewegung habe sich, obwohl zahlenmäßig stärker als die italienische, gegen die Nationalsozialisten viel weniger als die italienischen Arbeiter gegen den Faschismus gewehrt.
Mit Hilfe des Staatsapparates werde der deutsche Faschismus die Arbeiterbewegung gründlicher zerschlagen, als dies der italienische Faschismus mit der italienischen Arbeiterbewegung getan habe.
„Das Gebäude stürzte wie ein Kartenhaus zusammen“
Thalheimers Voraussagen haben sich bekanntlich innerhalb kürzester Zeit erfüllt. Dies insbesondere nach der Verordnung des Reichspräsidenten „Zum Schutz vom Volk und Staat“, die nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar erlassen wurde und die die Grundrechte außer Kraft setzte. Innerhalb kürzester Zeit kam es nun zum „Ermächtigungsgesetz“ bzw. zur Selbstentmachtung des Parlaments (gegen die Stimmen der SPD-Fraktion), zur Gleichschaltung der Länder, zur Auflösung der Freien Gewerkschaften, zum Verbot bzw. zur Selbstauflösung der politischen Parteien, bis auf die NSDAP. Das neue Regime leitete aber nicht nur eine institutionelle, sondern auch eine weltanschauliche Revolution in die Wege, die sich besonders deutlich im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 („Arierparagraph“) widerspiegelte. Durch diese Proklamierung des rassischen Prinzips als eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale im Staate stellte die NS-Führung massiv das christliche Menschenbild in Frage, zu dem sich im damaligen Deutschland noch etwa 95% der Bevölkerung offiziell bekannten.
Institutionen, mit denen viele Kritiker des Nationalsozialismus kurz nach der Zäsur vom 30. Januar 1933 noch ihre Hoffnungen verknüpft hatten, erwiesen sich als machtlos und ineffizient. Sie waren außerstande, Hitlers Umgestaltungswillen wirksam einzudämmen. Anfang Juli 1933 zog der französische Botschafter in Berlin, François-Poncet folgende Bilanz der ersten Monate des NS-Regimes:
„(Hitler) musste nur pusten – das Gebäude der deutschen Politik stürzte zusammen wie ein Kartenhaus“ (zit. nach Volker Ulrich, ZEIT Online 30. 1. 2017).
Das amerikanische System von „checks and balances“ angesichts der neuen Herausforderungen
Nun komme ich zu den eingangs erwähnten Appellen Timothy Snyders an seine Landsleute zurück, aus den Fehlern der Europäer im 20. Jahrhundert zu lernen. Er schreibt:
Da so vieles von dem, was im letzten Jahr passiert ist, aus der übrigen Welt oder aus der jüngsten Geschichte vertraut ist, müssen wir genau hinschauen und zuhören.
Große Sorgen bereitete Snyder die Einstellung Trumps zum bestehenden politischen System in den USA:
„Wir müssen akzeptieren, dass die Institutionen ihn nicht zähmen“, sagte Snyder am 7. 2. 2017 in der SZ: „(Für) Trump sind Institutionen und Gesetze Hindernisse, die ihm im Weg stehen und die er beseitigen will.“
Besonders häufig wurden in diesem Zusammenhang in der Presse die Äußerungen des einflussreichen Beraters des neuen Präsidenten, Stephen Bannon, zitiert, der in einer beinahe leninistischen Manier dem bestehenden System den Kampf ansagte:
„Bannon bezeichnet sich selbst als ´Leninisten´, dessen erklärtes Ziel die Zerstörung des existierenden Systems in Amerika ist“, so die F.A.Z. vom 24. Februar 2017.
Wie sieht aber die Bilanz dieses Feldzugs der neuen amerikanischen Administration gegen das „Establishment“ nach etwa sechs Monaten aus? Haben sich die oft geäußerten Befürchtungen, dass hier „etwas Ähnliches (wie in den 1930er Jahren) in der Luft liegt“ (Anne Applebaum) bestätigt? Bisher wohl kaum. Das amerikanische System von „checks and balances“ hat, trotz zahlreicher Herausforderungen und Bewährungsproben, mit denen es seit Januar 2017 konfrontiert war, durchaus seine Robustheit unter Beweis gestellt. Anders als die europäischen Diktaturen der 1930er Jahre verfügen die heutigen USA weiterhin über eine Fülle von Kontrollinstanzen, die in der Lage sind der Exekutive zu zeigen, dass ihre Machtfülle keineswegs unbegrenzt ist: Die beiden Kammern des Parlaments, die unabhängige Gerichtsbarkeit, die föderalen Strukturen, die Selbstverwaltungsorgane, und, last but not least, die freie Presse (die „vierte Gewalt“):
„Trump … kann keinen einzigen legislativen Erfolg vorweisen“, konstatierte am 31. Juli 2017 die SZ.
Und in der Tat. Sowohl Donald Trump als auch Stephen Bannon haben die Festigkeit des politischen Systems der USA, das immerhin infolge einer demokratischen Revolution entstanden war, unterschätzt. Die im Verlauf von etwa 240 Jahren gewachsenen Strukturen ließen sich bis jetzt mit Hilfe der von Bannon bewunderten „leninistischen“ Strategie nicht außer Kraft setzen. Dennoch geht das inneramerikanische Kräftemessen mit einer unverminderten Härte weiter und sein Ausgang ist offen.
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