Die M-Frage
Am 18. August startet die Bundesliga in ihre neue Saison. Viele Augen werden sich auf Thomas Müller richten. Wird es der Nationalspieler schaffen, aus seiner Formkrise zu finden und sich bei Bayern München gegen den neuen Star James Rodriguez durchzusetzen?
Wenn das Sommerloch im Profi-Fußball am tiefsten ist, dann zählt nicht das, was auf`m Platz passiert, sondern auf dem Transfermarkt. Während die Welt auf einen möglichen Wechsel von Superstar Neymar zu Paris St. Germain schaut oder auf das erfolglose Liebeswerben von Real Madrid um Giannluigi Donnarumma, das momentan wohl größte Torwarttalent dieser Erde vom AC Mailand, gibt es hierzulande immerhin den Zugang von James Rodriguez zu vermelden. Für zwei Jahre haben die Münchner Bayern den Kolumbianer ausgeliehen. Bei Real Madrid konnte sich James zwar nie dauerhaft als Stammspieler etablieren. Sein bestes Jahr hatte er in seiner ersten Saison in der spanischen Hauptstadt. In 46 Saisonspielen erzielte der Kolumbianer 17 Tore, hinzu kamen 18 Vorlagen. Sein Trainer damals: der heutige Bayern-Coach Carlo Ancelotti. Die Ankunft des Torschützenkönigs der Weltmeisterschaft 2014 setzt beim hiesigen Rekordmeister einen anderen Spieler unter Druck: den Torschützenkönig der Weltmeisterschaft 2010, Thomas Müller, der in der vergangenen Saison seine Probleme mit Ancelotti zu haben schien.
Lange Zeit galt Müller als so etwas wie der König Midas des deutschen Fußballs, was immer er anfasste und wo immer er hintrat, es wurde beinahe alles zu Gold. Ausgerechnet ein Holländer gab Müllers Karriere früh den entscheidenden Schub. Nur zwei Tage nach seinem 20. Geburtstag ließ der damalige Bayern-Trainer Louis van Gaal den Jungprofi in der Champions League debütieren. Der dankte es mit zwei Toren gegen Maccabi Haifa. Gemeinsam gewannen van Gaal und Müller anschließend die Deutsche Meisterschaft und den DFB-Pokal, in der Champions League scheiterten sie erst im Finale an Inter Mailand.
Blitzstart unter Louis van Gaal
Damit war das Müller-Märchen 2010 allerdings noch nicht zu Ende. Bei der darauffolgenden Weltmeisterschaft in Südafrika ließ es das bayerische Original erst so richtig krachen. Im Achtelfinale warf die junge und vorher nicht allzu hoch eingeschätzte DFB-Auswahl die vor Selbstbewusstsein nur so strotzenden Engländer hochkant mit 4:1 raus. Müller erzielte zwei Treffer. Im anschließenden Viertelfinale gegen die ebenfalls hochgehandelten Argentinien von Trainer Diego Maradona trug der Münchner mit seinem Führungstreffer entscheidend zum mehr als standesgemäßen 4:0-Sieg bei. Bekanntlich endete das Turnier für die DFB-Elf mit dem 3. Platz und für Müller mit der Torjägerkanone.
Auch nach der Weltmeisterschaft kannte Müllers Karriere lange Zeit nur eine Richtung: nach oben. Mit den Bayern gewann er Meisterschaft um Meisterschaft und 2013 sogar die Champions League. Mit dem DFB ein Jahr später die Weltmeisterschaft. Für den Münchner Vorzeigeklub wurde Müller nicht nur wegen seiner Tore immer wertvoller. Seine nicht aufgesetzte Heimatverbundenheit, seine lockere Zunge und sein verschmitzter Humor machten ihn mehr und mehr zu der Identifikationsfigur des Vereins. Umso mehr als das altersmüde Idol des vergangenen Jahrzehnts, Bastian Schweinsteiger, die Münchner im Sommer 2015 in Richtung Manchester verließ. Mannschaftskapitän Philipp Lahm oder Welttorhüter Manuel Neuer mögen die Fans ob ihrer über Jahre hinweg konstant starken Leistungen respektiert haben, Müller haben sie geliebt. Um ähnlich verehrt zu werden, dafür ist Lahm vielleicht doch zu sehr windschnittiger Klugschnacker und Neuer zu sehr „Herzens-Schalker“ mit Geburtsort Gelsenkirchen. Dass Müller irgendwann einmal beim FC Bayern in Frage gestellt würde, schien deshalb lange Zeit undenkbar.
Heimatverbundener Ur-Bayer mit lockerer Zunge
Nun ist das Undenkbare denkbar geworden, anders lässt sich die Verpflichtung eines Hochkaräters wie James Rodriguez nicht erklären. Der Kolumbianer ist mit Sicherheit nicht zum FC Bayern gekommen, um zu testen, ob die Ersatzbank in München genauso bequem ist wie die von Real Madrid. Außerdem kann es sich ein Klub mit den Ambitionen eines FC Bayern nicht leisten, einen formschwachen Ex-Star quasi als kickendes Maskottchen durchzuschleppen. Das kann nicht einmal ein „Gefühlsklub“ wie der 1. FC Köln. Sonst hätten sich der ziemlich kopfklare Trainer Peter Stöger und der hochprofessionelle Sportdirektor Jörg Schmadkte stärker um das Kölner Nationalsymbol Lukas Podolski bemüht.
Was Müller in der vergangenen Saison geboten hat, war in der Tat dürftig. Fast nichts wollte dem einstigen Goalgetter gelingen. Nicht einmal das Elfmeterschießen, bei dem der Bayer immer so treffsicher war. Wegen Müllers Formschwäche geriet der FC Bayern die gefährliche Abhängigkeit von einem einzigen Spieler: in die von Mittelstürmers Robert Lewandowski. Immer, wenn der Pole verletzt oder gesperrt fehlte, trat der FC Bayern quasi ohne Angriff in Aktion. Immer, wenn Müller anstelle von Lewandowski den Stoßstürmer geben musste, stand er zwar auf dem Platz, die meiste Zeit aber neben sich. So rächte sich die Entscheidung der Bayern-Führung, vor der Saison keinen Ersatz für den nach Dortmund abgewanderten Mario Götze zu holen. Der hatte in den Jahren zuvor zumindest eine passable „falsch Neun“ im Bayern-Sturm abgegeben.
Verpasste Chancen gegen Real Madrid
Dennoch hätte Müller mehrfach die Chance gehabt, Ancelotti, zu zeigen, wie unverzichtbar er ist. Diese Gelegenheiten ließ er kläglich verstreichen, insbesondere in den beiden Partien des Champions League-Viertelfinales gegen Real Madrid. Einmal fehlte Lewandowski komplett, das andere Mal schleppte er die Folgen einer Verletzung mit sich herum. Beide Male spielte Müller, beide Male fand er nicht aus der Formkrise heraus, keinem der Matches konnte er seinen Stempel aufdrücken.
Natürlich kommt es vor, dass die Chemie zwischen Spieler und Trainer nicht stimmt und deshalb die Leistung nachlässt. Bei Götze muss das unter dem früheren Bayern-Trainer Pep Guardiola so gewesen sein. In den gemeinsamen Zeiten mit Jürgen Klopp in Dortmund wusste Götze ebenso zu brillieren wie bei Joachim Löw im DFB-Team. Und ganz aktuell konnte man beobachten, wie Andries Jonker, der neue Trainer des VfL Wolfsburg, einen Mario Gomez zurück in die Erfolgsspur geführt hat. Jonker, ehemals van Gaals Assistent bei den Bayern, kennt Gomez aus besseren Tagen und weiß offensichtlich, welche Ansprache der sensible Mittelstürmer braucht. Seine Vorgänger Hecking und Ismael wussten das anscheinend nicht.
Krise wegen fehlender Chemie mit Ancelotti?
Eines der eklatantesten Beispiele für Trainer-Spieler-Missverständnisse führt wieder zu Louis van Gaal. Diesmal im negativen Sinne. Juan Roman Riquelme galt zu Beginn der 2000er-Jahre als der vielleicht feinste Techniker des Weltfußballs. Ein Magier, ein Spielmacher, den manche bei seinem Heimatklub Boca Juniors mit Maradona vergleichen, der kultisch verehrten Boca-Ikone. Manche nennen Riquelme heute „den letzten Zehner“. Im Jahr 2002 wechselte der Argentinier zum FC Barcelona, wo van Gaal das Zepter schwang. Der Holländer mag Tempofußball, klare Ansagen und Disziplin. Sein neuer argentinischer Star dagegen ist eher der Typ schlampiges Genie, chronisch unorthodox und für die Ansagen des Niederländers wohl zu sensibel. Zwar spielte Riquelme bei Barca regelmäßig, ohne dabei aber durchschlagenden Erfolg bei zu haben. 2003 trennten sich Riquelme und Barcelona. Der Argentinier wechselte in die spanische Provinz zum FC Villareal, wo er das Glück hatte, mit dem kultivierten Chilenen Manuel Pellegrini, einem studierten Ingenieur einer Elite-Universität, einen verständnisvolleren Übungsleiter zu bekommen. Gemeinsam gelang es Riquelme und Pellegrini, den Underdog Villaraeal ins Halbfinale der Champions League und damit zum größten Triumph der Vereinsgeschichte zu führen.
Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass die fehlende gemeinsame Wellenlänge mit Ancelotti in der Tat eines von Müllers Problemen ist. Als einzige Erklärung taugt dies meiner Ansicht aber nicht. Auch im DFB-Dress ist der Stürmer längst nicht der alte. Zwar traf Müller in der aktuell laufenden WM-Qualifikationsrunde regelmäßig gegen schwächere Gegner, bei der Europameisterschaft in Frankreich klebte ihm allerdings, ähnlich wie beim FC Bayern, das Pech an den Fußballstiefeln.
Obwohl Trainer Löw ihn bei diesem Turnier regelmäßig spielen ließ, gelang Müller kein Tor. Im Match gegen Nordirland, das die deutsche Elf mehr als deutlich dominierte, hatte der Bayer gefühlt zehn Großchancen, die er alle kläglich vergab. Ebenso desorientiert wirkte er in den folgenden, engen K.O-Spielen gegen Italien und Frankreich. Aber damals gab es im Fußball-Leben des Thomas Müller noch keinen Carlo Ancelotti, den man für die unglücklichen EM-Auftritte hätte verantwortlich machen können. Um den Titel des Europameisters zu gewinnen, hätte das DFB-Team indes einen besseren Angreifer gebraucht, weshalb ich vielleicht wirklich Podolski statt Müller gestellt hätte. Der Kölner galt im vergangenen Sommer vielleicht auch nicht gerade als formstark, für ein Tor ist ein „Poldi“ aber immer gut.
Chancentod bei Europameisterschaft 2016
Zwar hatten selbst die größten Angreifer ihre Schwächephasen, in denen ihnen nichts gelang. Das scheint auf dieser Position beinahe unausweichlich zu sein und galt für Gerd Müller ebenso wie für Rudi Völler oder Jürgen Klinsmann. Es kann deshalb sein, dass Thomas Müller plötzlich – wie nach einem Wunder – wieder trifft und niemand mehr etwas von einer Krise wissen will. Aber mit „könnte sein“ kann ein Verein wie der FC Bayern nicht kalkulieren. Was passiert, wenn es Müller stattdessen so geht wie anderen ehemaligen Bayern-Stürmern, wie eben Podolski, Luca Toni oder Jürgen Wegmann, die einige großartige Spielzeiten hatten, dann aber dauerhaft nachließen? Ein Plan B scheint daher nicht nur sinnvoll, sondern notwendig.
Der FC Bayern tut gut daran, sich mit James Rodriguez echte Konkurrenz für Müller ins Haus zu holen. Was zählt, ist eben doch auf`m Platz und nicht irgendwelche B-Noten für Sympathie und Heimatverbundenheit. Müller steht jetzt vor dem entscheidenden Jahr seiner Karriere. Setzt er sich unter Ancelotti gegen eine Granate wie James durch, dann wird er als einer der größten Fußballer Münchens aller Zeiten in den Bayern-Pantheon eingehen. Bleibt er dagegen in der Krise stecken, sollte sein Weg zwangsläufig woanders hin führen.
Luftveränderung täte gut
Zwar bekunden die Bayern-Bosse noch, dass Müller unverkäuflich ist. Doch nirgendwo gilt der Ausspruch „alles fließt“ mehr als im Profi-Fußball. Und das Motto Konrad Adenauers, was interessiert mich mein Geschwätz von gestern, es ist wohl nirgendwo mehr allgemeine Arbeitsmaxime als im Sportbusiness. Auch Toni Kroos, Bastian Schweinsteiger oder Karl-Heinz Rummenigge zählten bei den Münchnern einst zum unverkäuflichen Inventar, bevor das Sein aus irgendwelchen Gründen das Bewusstsein veränderte.
Meine Prognose lautet daher: Thomas Müller wird seine Karriere so oder so nicht beim FC Bayern beenden, selbst wenn in der kommenden Spielzeit überzeugen sollte. Gerade ein so heimatverbundener Spieler wie Müller bräuchte eine Luftveränderung, wenn er ein ganz Großer werden will.
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