Identitäre Diskurse
Die Debatten über Integration und Islam werden von Identitätspolitik dominiert. „Muslim“ ist dabei zur Kategorie für das Andere – oder das Eigene – geworden. Was von Rechten und von Vertreter/innen des politischen Islam betrieben wird, wird von einem Teil der Linken gefördert, indem ein vermeintlich antirassistischer Diskurs das Objekt des Rassismus immer aufs Neue reproduziert.
Integration kann in einer modernen, pluralistischen Gesellschaft nur die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Leben bedeuten. Integration betrifft somit zum einen nicht nur Menschen, die von irgendwo auf der Welt nach Europa kommen, sondern alle, die hier leben und zum anderen integrieren sich in moderne Gesellschaften einzelne Menschen und nicht Gruppen oder Kollektive.
Volle Identität
Verfolgt man jedoch die Integrationsdebatten der letzten Jahre, muss man den Eindruck gewinnen, es ginge nur um Migranten, ja eigentlich sogar nur um Muslime, die quasi als Kollektiv integriert werden müssten. Diese Entwicklung verdanken wir nicht zuletzt einem zunehmenden ideologisch und religiös begründeten Kollektivismus. Unsere Debatten – vor allem im Bereich Integration – sind von Identitätspolitik bestimmt oder, wie es die Philosophin Isolde Charim[1] beziehungsweise der Philosoph Sama Maani nennen, von einer Ideologie der vollen Identität und das nicht nur von rechts außen.
Identitätspolitik oder Politik der vollen Identität bedeutet, dass ein Teilaspekt individueller Identität zur identitären Definition eines Kollektivs überhöht wird. Noch vor rund 20 Jahren sprach niemand von Muslimen. Egal ob wohlmeinend oder abwertend wurde wahlweise von „Ausländern“ oder eben von Türken, Bosniern, Arabern etc. gesprochen, was auch schon problematisch war. Heute jedoch werden alle Menschen, die selbst oder deren Vorfahren aus mehrheitlich islamischen Ländern kamen, unter der Bezeichnung „Muslime“ subsumiert. Muslim ist zur Kategorie für das Andere – oder das Eigene – geworden. Anhand der Trennlinie „Muslim“ wird die Gesellschaft in ein „Wir“ und „die Anderen“ geteilt. Hier findet eine geistige Zwangskollektivierung statt. Individuen werden nicht mehr als solche wahrgenommen, sondern stattdessen vollständig mit der ihnen zugedachten imaginären Kategorie „Muslim“ identifiziert. Imaginär, weil ein religiöses Bekenntnis kein angeborenes und unabwendbares Merkmal wie etwa die Hautfarbe ist. Es wird aber im Diskurs mittlerweile in gleicher Weise als quasi angeborenes Merkmal verwendet.
Das haben wir nicht nur den Rechten zu verdanken, die sich als vermeintliche Verteidiger des Abendlandes und der Aufklärung gegen Muslime positionieren, sondern ebenso den Vertreter/innen islamischer Organisationen in Europa, die fast alle den diversen Organisationen des politischen Islam nahestehen – und in deren Interesse es ist, eine muslimische Identität aufrechtzuerhalten bzw. zu befördern.
Identitätspolitik dominiert den Diskurs
Diese Identitätspolitik dominiert den öffentlichen Diskurs mittlerweile fast vollständig. In der Zeitung kann man lesen, dass in Österreich 700.000 Muslime leben. Vermutlich finden sich unter diesen „Muslimen“ etliche Atheisten, Agnostiker und Menschen, die nur die wichtigen Feiertage im Kreise der Familie feiern und ansonsten Gott einen lieben Mann sein lassen. Die Zahl erinnert an jene fast 2 Milliarden Muslime, die von Mohammed Karikaturen in Charlie Hebdo beleidigt waren. Hier werden Menschen mit einer vollen Identität ausgestattet, hinter der ihre Individualität verschwindet. Es geht nicht mehr darum, ob sie tatsächlich gläubig sind oder nicht, was alleine zählt ist ihre Herkunft. Aufgrund dieser werden sie dem Kollektiv Muslime zugeordnet, das als homogenes gedacht und dargestellt wird.
In den Medien findet sich auch kaum ein Artikel zum Thema Integration, der nicht mit Frau mit Kopftuch bebildert ist, sogenannte „Sichtbare Musliminnen“, wie sie in den sozialen Medien in Kreisen identitärer Muslime genannt werden. So wird, von Medien und Vertreter/innen des politischen Islam gleichermaßen, Homogenität suggeriert: Muslimin, das ist die Frau mit Kopftuch – obwohl unter sich selbst als gläubig bezeichnenden Musliminnen nur knapp ein Drittel im Alltag Kopftuch trägt.[2] Im identitätspolitischen Diskurs klingt das anders.
Antirassistische Ignoranz
Auch ein Teil des linken Diskurses wird von Identitätspolitik bestimmt: Um sich von der identitären Politik der Rechten abzugrenzen, werden Muslime vermeintlich in Schutz genommen, womit in der Regel gerade die konservativen, auf Identitätspolitik beharrenden islamischen Kräfte, gemeint sind. Dementsprechend fallen die Reaktionen auf Ex-Muslime aus oder auf Menschen, die selbst einen muslimischen Familienhintergrund haben, aber öffentlich die Religion oder muslimische Communities kritisieren, wie etwa Hamed Abdel Samad, Necla Kelek oder Kamel Daoud. Sie gelten als Stichwortgeber der Rechten, als Störenfriede des vermeintlich antirassistischen Diskurses. Dafür, dass sie die ihnen zugewiesene volle Identität verlassen und eine individuelle Identität jenseits ihres Muslim-Seins beanspruchen, werden sie denunziert. Sie sind Opfer einer vermeintlich antirassistischen Ignoranz. Von identitär muslimischer Seite werden solche „Dissidenten der vollen Identität“ übrigens als „Hausmuslime“ bezeichnet – als Muslime, die der Mehrheitsgesellschaft näher stünden, als IHRER Community. Sie gelten als Verräter an IHREM muslimischen Kollektiv.
Identitätspolitik, egal von welcher Seite, spaltet die Gesellschaft in scheinbar homogene Gruppen und fördert, auch wenn sie sich antirassistisch gibt, letztlich Rassismus. Denn sie reproduziert genau das, was ihm die Basis ist: Gruppenidentitäten und die identitäre Verknüpfung von Individuen mit vermeintlich naturgegebenen Eigenschaften. Diese identitätspolitischen Diskurse negieren nicht nur die menschenrechtlichen Grundlagen unserer Gesellschaft – individuelle Freiheit und individuelle Rechte – sondern befördern letztlich Desintegration, weil sie exkludierte Gruppen überhaupt erst erzeugen.
Integration fördern bedeutet demgegenüber, diese identitätspolitischen Diskurse zu überwinden und Menschen prinzipiell als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger zu betrachten, die sich als Einzelne integrieren und nicht in erster Linie als Angehörige eines Kollektivs.
[1] Isolde Charim, Volle Identität gegen nicht-volle. In R. Just, G. R. Schor (Hrsg.), Vorboten der Barbarei, Hamburg 2011.
[2] Ednan Aslan; Jonas Kolb; Erol Yildiz, Muslimische Diversität. Ein Kompass zur religiösen Alltagspraxis in Österreich, Wiesbaden 2017, S. 284 und 62.
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