Donald Schönborn und der wilde Westen

Ein Ritt durch die alternativen Fakten des WDR:


So etwas hat es in dieser Form in der ARD noch nicht gegeben. Während einer Dokumentation wird alle fünf Minuten ein Hinweis auf „notwendige Anmerkungen“ in einem „Faktencheck“ eingeblendet. Als handele es sich um ein gefährlich manipulatives Propagandawerk, das die ARD aus reinen medienpädagogischen Gründen zeigt, um es dem Publikum kritisch einzuordnen. Was ist zu sehen? Zu erwarten wäre ein Werk wie etwa „Vaxxed“, jener Streifen des Quaksalbers Andrew Wakefield, der Paranoia und Verschwörungstheorien in der Bewegung der Impfgegner befeuert. Doch nein: Es handelt sich um „Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa“.

WDR bringt sich selbst in Schusslinie

Ein Film, in dem der israelbezogene Judenhass als die wesentliche Form des Antisemitismus unserer Tage beleuchtet wird. Dafür werden eine Vielzahl von O-Tönen herangezogen, an denen die Abstrusität, die Manie des kirchlichen, des rechten, des linken wie des muslimischen Aktivismus sichtbar werden, der sich „Palästinasolidarität“ schimpft. Verdeutlicht wird die Einseitigkeit in der Wahrnehmung der gezeigten europäischen Bewegungen und Milieus in Bezug auf den Nahostkonflikt auch durch eine Reise des Filmteams nach Palästina und Israel. Ziel dieser Reise ist es, Mythen und Un- bzw. Halbwahrheiten, die in Deutschland und Frankreich über den Konflikt kursieren und auf denen sich antisemitische Erzählungen stützen, vor Ort zu konterkarieren. Diesen in der Dokumentation klar benannten Zusammenhang wollte Auftraggeber Arte nicht sehen. In den Augen des Senders – wie auch vieler Kommentatoren, etwa beim Deutschlandfunk – verfehlte der Film das Thema, nämlich über Antisemitismus in Europa zu sprechen. Anscheinend wurde die Argumentation des Films nicht verstanden. Im Detail kann man – soll man! – über diese Argumentation streiten. Und Filmkunstfreundinnen und -freunde können gerne über den etwas außergewöhnlichen Stil diskutieren. Doch das sollten Aspekte sein, die noch viel mehr für die Ausstrahlung sprechen – nicht dagegen.

Bislang konnte der WDR noch recht komfortabel in der ganzen Angelegenheit im Hintergrund bleiben. Doch mit einer fulminanten Show haben WDR und letztendlich auch die ARD Arte zur Seite gedrängt und stehen nun selbstgewählt im Rampenlicht dieser Medienposse. Durch einen extrem umfangreich anmutenden „Faktencheck“ wollte der WDR beweisen, warum Nicht-Ausstrahlung bzw. „Sendestopp“ gerechtfertigt waren.

Also, Licht aus, Spot an!
It’s Faktencheck-time, baby!

Der Auftakt ist gleich ein ganz großes Feuerwerk. Zu Sekunde 41 des Films merkt der WDR „notwendig“ an, dass der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde Abbas nicht explizit von „Brunnen“ redet, die die Juden vergiften wollten, sondern lediglich die später von ihm selbst zugegebene Lüge von Rabbinern verbreitet, die das Wasser der Palästinenser vergiftet sehen wollen. Hier ordnete die Dokumentation unzulässigerweise die Rede in die alte antisemitische Mär von den Brunnenvergiftern ein. Bestechende Logik, WDR!

Die weitere Anmerkung an dieser Stelle, Abbas habe ja auch der „friedlichen Koexistenz“ Israels und Palästinas das Wort geredet, steht paradigmatisch für etwas Grundsätzliches. Die Dokumentation fukussiert auf die Transformation antisemitischer Ideologie und ihrer Versatzstücke. Das bedeutet: Ihr geht es nicht um eine „objektive Darstellung“ des Nahostkonfliktes (wenn so etwas überhaupt möglich ist), das ist schlichtweg nicht das Thema. Sondern an dieser Stelle soll gezeigt werden, dass in der auch in Europa weit verbreiteten Redensart über Israel und den Nahostkonflikt antisemitische Ideologeme weiterexistieren – was im Anschluss an Abbas durch den Exkurs zu Julius Streicher, den Stürmer und Mohammend Amin al Husseini deutlich gemacht wird. Der WDR verweigert sich – wie es Arte stillschweigend tat – diesem Diskurs, indem der Sender, seinerseits das Thema verfehlend, auf eine in diesem Zusammenhang eben nicht zwingend relevante Passage aus Abbas Rede verweist.

Die nächste angeblich so notwendige Anmerkung der Redaktion mutet vergleichsweise langweilig an, illustriert aber, wie in Kombination aus Haarspalterei und Erbsenpickerei die Masse der Fakten aufgebläht wird. Zu Minute 2:18 heißt es:

„…  etwa zum Antisemitismus Richard Wagners, der in der neueren Forschung nun gerade als nicht rassistisch bewertet wird, sondern vielmehr die „Erlösungsidee“ Wagners gegen den damals formulierten Rassegedanken einordnet.“

Damit soll wohl belegen, dass Auserwählt und ausgegrenzt in den wenigen Sekunden, in denen die lange Tradition antisemitischen Denkens in der europäischen Kultur anhand ausgewählter Intellektueller thematisiert wird, nicht ausreichend auf die jeweiligen zeitlichen Hintergründe eingehen. WDR, ernsthaft? Wie viel Sendezeit hätte man der Dokumentation denn eingeräumt? Nach diesen Standards müsste sich jede Dokumentation zu einem breiten gesellschaftlichen Thema in wissenschaftliche Elfenbeintumdebatten ergehen – auf die Quote dürfte dann aber nicht mehr geschaut werden! Um zu verdeutlichen, wie extrem kleinlich und somit eben definitiv nicht „notwendig“ diese Anmerkung ist, hier ein Zitat aus einem Artikel der Süddeutschen zu Richard Wagner:

„Der altbekannte, mittelalterliche Antijudaismus hat bei ihm ausgedient. Ihm ist es egal, ob jemand Christ ist, sofern seine Vorfahren jüdisch sind. So schmäht er den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy posthum – Taufe hin oder her. Seine Botschaft lautet schon damals: Juden sind künstlerisch impotent, sie können nur nachahmen und sind unfähig, selbst kreativ zu sein, Juden setzen auf bloßen Effekt. Juden gehören nicht zu den Deutschen: Der Jude hat etwas „unangenehm Fremdartiges“ an sich.“

Kruzifix, nochmal!

Und so geht es weiter. Mit isoliert betrachtet diskutablen und auch interessanten, aber eben in keiner Weise „notwendigen“ Anmerkungen versucht der WDR, durch die Schiere Menge der „gecheckten Fakten“ die Entscheidung des Senders nachträglich zu rechtfertigen. So etwa bereits in der nächsten Einlassung bei Minute 3:21. Inwiefern das Kruzifix zumindest auch ein genuin antisemitisches Symbol ist, weil es immer wieder auf die Geschichte vom Verrat der Juden am Schöpfer der Christenheit verweist, kann man mit einem interessierten Fachpublikum ausgiebig diskutieren. Das dieser Aspekt aber auch zur Geschichte christlicher Kultur gehört, räumt der WDR selbst in dieser Anmerkung ein. Was, also, ist hier nun der so absolut zwingende Fakt, auf den die Zuschauer*innen während der Ausstrahlung hingewiesen werden müssen?

Gehen wir zunächst noch chronologisch weiter zur „notwendigen“ Anmerkung bezüglich Min. 5:13: Die Menschenrechtsbeauftragte der Partei DIE LINKE, Annette Groth, behauptet, Israel würde gezielt die Wasserversorgung in Gaza kaputt machen, was zur Folge hätte, das nun irgendwelche Chemikalien ins Mittelmeer gelangten. Die Analogie, die die Dokumentation hier zur alten Geschichte der Brunnenvergifter zieht, mag vielen in der Form, wie sie geäußert wird, überzogen vorkommen. Doch gerade angesichts des Faktenchecks des WDR ist sehr fraglich, ob hier wirklich in einem Maße überzogen wird, das die Grenze des Aushaltbaren überschreitet. Denn es ist der WDR selbst, der, um einiges ausführlicher als die Dokumentation, die Behauptung von Annette Groth über die gezielte Zerstörung der Trinkwasserversorgung in Gaza als Unsinn überführt:

„Diese ist ein großes Problem für Gaza, allerdings hat diese Verunreinigung v.a. mit Überpumpung des Grundwassers zu tun, die schon vor der Besetzung Gazas durch Israel begann. […] Richtig ist außerdem, dass die Wasserversorgung in Gaza vornehmlich durch die Herrschaft der Hamas und deren Konflikte mit der Palästinensischen Autonomiebehörde schwierig ist.“

Klar, die Dokumentation ist in der Zuspitzung des Unsinns, den Annette Groth hier in die Kamera sagt, polemisch. Doch hier geht es allenfalls um Nuancen. Denn Unsinn bleibt Unsinn. Und natürlich drängen sich, wie auch im Fall Abbas, die Parallelen zum Motiv Brunnenvergiftung auf. Erneut: Wo ist die redaktionelle Notwendigkeit für eine solche Anmerkung? Welches Fakt wurde hier gecheckt?

Haarspalterei und Erbsenpickerei

Und das bleibt im Folgenden die Vorgehensweise. Die Hauptzahl der „notwendigen Anmerkungen“ besteht aus Haarspalterei und Erbsenpickerei. Ein letztes, dafür recht amüsantes Beispiel: Zu Minute 19:54 erläutert der WDR relativ ausführlich die Rezeption von Faschismus und Nationalsozialismus in DDR und Sowjetunion, um der Aussage des Interviewpartners Stephan Grigats zu widersprechen, Adorno und Horkheimer seien „die ersten [gewesen], die diese unglaubliche historische Niederlage [der Linken], dass sich große Teile der deutschen Bevölkerung, einschließlich der Arbeiterschaft in das Vernichtungsprojekt des Nationalsozialismus integriert haben, dass es so gut wie keinen nennenswerten Widerstand dagegen gegeben hat“, thematisierten. Wow. Über den Diskurs der Funktionäre von DDR und UdssR zum Nationalsozialismus müssen die Zuschauer*innen dieser Dokumentation wirklich dringend aufgeklärt werden. Von der xten Frage danach, wo hier die Notwendigkeit besteht, mal abgesehen (und auch davon, dass man, wenn man wissenschaftshistorisch auf die ersten Veröffentlichung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in den 1920er Jahren und später im us-amerikanischen Exil schaut, natürlich einen belanglosen Streit darüber führen kann, was zu erst kam): Hier lenkt der WDR ganz klar vom Thema ab. Denn in der Diktion der DDR und der Sowjetunion geht es natürlich vor allem um Schuldabwehr vom „revolutionären Subjekt“, also der Arbeiterklasse. Grigat aber bezieht sich darauf, dass Adorno und Horkheimer sich wirklich als Linke ohne ideologische Scheuklappen diesem Thema gestellt haben, die Frage nach der Integrierbarkeit des Trägers aller Hoffnungen auf eine befreit Gesellschaft in das Vernichtungsprojekt des Nationalsozialismus zugelassen haben. Genau dies taten DDR und UdssR, wie der WDR im Prinzip wieder selber ausführt, eben nicht.

Bataclan & Antisemitismus

Da dieser Artikel kein Ende hätte, würde in gleicher Weise jede Anmerkung auf ihre angebliche „Notwendigkeit“ überprüft – ein „Faktencheck“ findet, wie zu sehen ist, größtenteils eh nicht statt, sondern sehr viele kleinliche Fachdiskurse – beenden wir diesen Ritt durch die alternativen Fakten im wilden Westen Schönborns mit einer Stelle, an der es zumindest dem Verfasser dieser Zeilen kalt den Rücken runter läuft. Bei Stunde 1, Minute 16:08 heißt es im „Faktencheck“ lapidar:

„Es gibt keinerlei Belege dafür, dass der Anschlag auf das Bataclan im November 2015, zu dem sich der IS bekannt hat, antisemitisch motiviert war. Er kann deshalb nicht in eine Aufzählung antisemitischer Attentate aufgenommen werden.“

Das Bataclan wurde vor dem Attentat mehrfach aufgrund seiner pro-israelischen Haltung gezielt bedroht. Die Drohungen kamen allesamt aus einem muslimischen Milieu. Und genau hier findet das Hauptmassaker der Terroroffensive des IS in Paris statt. Keine Belege? Ist der IS etwa nicht antisemitisch? Etwa nicht israelfeindlich? Was der WDR tut, ist die Opferperspektive in Frage zu stellen. Er negiert explizit die besondere Bedrohung von Israelis und Juden in Europa aufgrund des israelbezogenen Judenhasses. Der WDR behauptet wiederum implizit, Israelis, Juden und pro-israelische Institutionen seien vom IS nicht mehr bedroht als der Rest der Bevölkerung. An dieser Stelle wird aus Haarspalterei und Erbsenzählerei Infamie. Und das ist Fakt.

Marcus Munzlinger

1983 geboren in Berlin, aufgewachsen in Schleswig-Holstein und Hamburg. Studium der Romanischen Philologie mit Schwerpunkt Spanische Literaturwissenschaften im Hauptfach Magister an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit den Nebenfächer Soziologie und Pädagogik. Vorstandsarbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Schleswig-Holstein und Ausschussarbeit in der Jugendbildung der Rosa-Luxemburg-Bundesstiftung in Berlin. Redaktionsarbeit bei der Gewerkschaftszeitung Direkte Aktion in den Ressorts Kultur & Globales. Seit 2014 Mitarbeiter im Programmteam des Kulturzentrums Pavillon in Hannover im Bereich Gesellschaft & Politik. Daneben freie journalistische Arbeit mit Veröffentlichungen in der Jungle World, ak – analyse & kritik und Straßen aus Zucker.

More Posts

Schreibe einen Kommentar zu The Saint Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert