Gassenhauer #2 – Kairo en miniature
Weiter geht es durch die Hinter- und Nebengassen der Weltliteratur
Die Midaq-Gasse von Nagib Mahfuz
Wie berichtet grabe ich mich durch Texte, die sich um Gassen drehen. Nagib Mahfuz Midaq-Gasse war einer der Ideengeber für diese Kolumne, und ist eine der schönsten Milieustudien der Weltliteratur. Eine Vielzahl halb individueller, halb typischer Charaktere bevölkern die kleine selbstgenügsame Seitenstraße in Kairo wie eine Miniatur des späten Königreiches Ägypten zur Zeit des zweiten Weltkriegs. Ein Alkohol- und vor allem Haschisch-affiner Teilzeit-Islam wird hier gelebt, der Dichter in Kirshas Café wird langsam aber sicher vom Radio verdrängt. Ein Arzt und ein Grabräuber entdecken ein gemeinsames Nebeneinkommen. „Freies Unternehmertum“ wird groß geschrieben. Sei es in der erfolgreichen Süßigkeiten-Fabrik des Salim Alwan, dessen Söhne ihn dazu drängen, sich um den Titel eines „Bey“ zu bewerben, sei es im Keller Zaitas, wo mit viel Geschick Krüppel produziert werden, um effektiver zu betteln, sei es in der Liebe, ob in der Heiratsvermittlung oder der Prostitution. Und man mag Hitler, weil er ein Feind ist, der es einigen Bewohnern der Gasse ermöglicht gut und dauerhaft in britischem Diensten unterzukommen.
Aufstiegsträume und Besitzstandswahrung
Getragen wird der Roman von einer Handlung rund um die Heiratsvermittlerin Umm Hamida und deren Tochter Hamida, um die sich mehrere Gassenbewohner vergeblich bemühen, deren „Milchbruder“ Abbas Al-Hillu, der um Hamida zu Freien eine Stelle bei der Armee annimmt, Hussain Kirsha, Sohn des Caféhausbesitzers, der es ihm erfolgreich vorgemacht hat und bald eine Frau mit nach Hause bringt, die ihn alles andere als glücklich macht, wobei zahlreiche kleinere Nebenhandlungen geschickt die geschäftige Atmosphäre der Gasse spürbar machen. Sie, die anfangs so selbstgenügsam wirkte hat durch die Aufstiegsträume einerseits und die verzweifelte Besitzstandswahrung andererseits ihrer Bewohner einige Erschütterungen zu ertragen, und auch ägyptische und Weltpolitik lässt Mahfuz geschickt in die Sozioökonomie der Gasse hineinspielen. Der Schluss, der Hamida zur Prostituierten werden lässt und Abbas in einem verzweifelten Versuch sie zu retten, sterben, wirkt allerdings etwas dick aufgetragen. Auch hier bleibt aber die grundsätzliche Ambivalenz bestehen, die das Werk auszeichnet: Was beim ersten Lesen wie eine konservative Verurteilung von Hamidas Ausbruchsversuch aussehen mag, fällt unter genauerem Blick ebenso auch auf den Mann zurück, der sie nicht gehen lassen kann und versucht mit Gewalt und gegen Hamidas Willen zu intervenieren.
Das Ende der Midag-Gasse(n)?
Der 1947 vollendete Roman bleibt unbedingt lesenswert. Auch wenn das Ägypten, das Mahfuz beschreibt heute, so zumindest der jünger ägyptische Autor Alaa al-Aswani, seit dem Aufstieg eines ungleich politischeren Islams als dem der Bewohner der Midaq-Gasse (die man sich in ihrer durchaus auch damals schon dauernd beklagten Opferrolle dennoch als dessen mögliche Protagonisten vorstellen kann), an Orten wie der Midaq-Gasse kaum mehr aufzufinden sein wird.
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