Gassenhauer – Literatur auf engstem Raum #1
Eine beeindruckende Konzentration von Texten hoher literarischer Qualität lässt sich rund um Titel ausmachen, die das Wort „Gasse“ oder „Straße“ ziert. Vielleicht gibt es dafür sogar einen Grund…
Mahfus Midaq-Gasse, Raabes Sperlingsgasse, auch Cannery Row oder Ben Okris Hungrige Straße. Eine beeindruckende Konzentration von Texten hoher literarischer Qualität lässt sich rund um Titel ausmachen, die das Wort „Gasse“ oder „Straße“ ziert. Vielleicht gibt es dafür sogar einen Grund: Die Moderne wird einerseits als ein hochgradig zersplittertes Zeitalter erlebt, andererseits bilden sich weltweit vergleichbare Mikrokosmen heraus, die exemplarisch für moderne Erfahrungen der Auflösung von und des Festhaltens an Tradition, der gesellschaftlichen Atomisierung und des immer gehetzteren Anruderns dagegen stehen können. Mikrokosmen, die in sich geschlossen wirken, aber prinzipiell universell zugänglich sind, und umso mehr, je mehr sich die modernen Erfahrungen einander annähern. Kosmen in die sich der Leser in Dhakar ebenso einfülen kann wie in Castrop Rauxel. Neben den globalisierten Dörfern (nicht umsonst erlebt der Dorfroman ein Revival) bieten sich als städtisches Pendant Gassen geradezu an, das Phänomen Moderne literarisch zu kondensieren.
Die vorläufige Leseliste
Und weil ich immer nach zumindest halbwegs guten Vorwänden suche, neues literarisches Terrain zu erschließen, nehme ich diese Überlegungen zum Anlass, um mir alles an Büchern zu bestellen, was mit Straßen und Gassen zu tun hat. Und bei Gelegenheit dann ein paar kleine Kurzrezensionen dazu zu fertigen. Bisher angeschafft wurden neben den eingangs genannten:
Die Blaue Gasse (Giuseppe Bonaviri)
Die Gasse der dunklen Läden (Patrick Mondiao)
Das Tor zur roten Gasse (Qiu Xialong)
Ferner erlaubte ich mir, auch einige sozusagen verwandte Titel zu besprechen, die um den Begriff des Hauses kreisen. So:
Das Haus an der Moschee (Kader Abdolah)
Das Grüne Haus (Mario Vargas Llosa)
Das stille Haus (Orhan Pamuk)
Sowie vielleicht auch einige Straßentitel wie etwa
Nairobi, River Road (Meja Mwangi)
Über weitere Hinweise auf Gassenhauer bin ich dankbar…
Die Chronik der Sperlingsgasse
Beginnen möchte ich meine Serie über Gassenhauer mit Wilhelm Raabes Die Chronik der Sperlingsgasse, das zu durchdringen eher ein ganzes Buch verlangen würde. Doch wäre der herrlich freie Fluss der Erzählung dann so unschön festgenagelt, dass man das Buch am besten gleich dem Müll überantworten würde. Drum soll sich hier stattdessen im Gegenteil mit einigen kursorischen Bemerkungen begnügen werden.
Die Sperlingsgasse kommt chaotisch daher, verfahren, wie in wilden Gedankensprüngen. Im lockeren Plauderton erinnert der Erzähler und Chronist Johannes Wacholder sich einer unglücklichen Liebe, der Heirat der Geliebten mit den besten Freund, und des allzu frühen Todes der noch immer Verehrten. Eine Ziehtochter (Elise) tritt auf, deren Herkunft von der alten Liebe sich erst nach und nach aufklärt, ein junger Freier und werdender Maler, ein alter kauziger Karikaturenzeichner, der sich gern mit den Autoritäten anlegt, sowie zahlreiche andere Figuren die nur kurz aufscheinen und verschwinden. Und natürlich der immer allzu kritische Hund des Karikaturisten, „Rezensent“.
Der Roman als Wolke
All diese Gestalt bringen ihre eigenen Geschichten in die Chronik ein. Während diese über Jahrmärkte schweift, Schicksale der Arbeiterschaft streift, zweimal von den napoleonischen Kriegen überspühlt wird und Matthias Claudius durch ihre Seiten geistert, lernen wir mit Strobel die Verhältnisse im Pressewesen in Berlin und in Bayern kennen, der Flug des Kanarienvogels Flämmchen erzählt uns über die Liebe des jungen Malers zu Elise, mit Hund und Katze erkunden wir in einem kleinen Märchen das Rätsel eines verschlossenen Schrankes, und eine Gutenachtgeschichte für Elise entführt in ein verwunschene Schloss.
Die Meisterschaft dieses frühen Raabes, die ich mit Blick aufs spätere Gesamtwerk für weiterhin unerreicht halte, besteht darin, gleichzeitig in jedem Moment den Eindruck eines freundlichen, doch eher unkonzentrierten Geplauders aufrechtzuerhalten, und dennoch die einzelnen Momente zu einem geschlossenen Ganzen zu verweben. Kein monolithischer Block, eher vielleicht eine Wolke voller Erzählungen, die äußerlich klar umrissen wirkt, doch bei festem Zugreifen in den Fingern zergeht wie Luft.
Wer sich fragt, wie ein Ganzes sein kann, ohne dass der Summe seiner Teile Gewalt widerfährt (Adorno zum Ziel aller Musik) findet hier eine beeindruckende Näherung. Die Sperlingsgasse ist ein frühes Meisterwerk der Moderne, als von dieser noch keiner sprach. Und bleibt vielleicht eines ihrer größeren, gerade weil dem Text die fassliche Bemühtheit, ja, Gezwungenheit, abgeht, die viele spätere moderne Werke wie Versuche wirken lässt, den Ausweis der Intellekts ihrer Autoren mit dem Stemmeisen herbeizuprügeln…
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