Mensch, Ancelotti

Carlo Ancelotti kommt nach seinem Fingerzeig von Berlin ohne Strafe davon. Dass der DFB die Ermittlungen gegen den Trainer des FC Bayern München eingestellt hat, ist nicht nur sportrechtlich vertretbar, sondern auch der Sache angemessen.


Um es vorweg zu sagen: Ich bin Fan von Carlo Ancelotti. Diesem stoischen Italiener, dem es beim Fußball vor allem ums Gewinnen geht und nicht darum, irgendein Spektakel abzuziehen oder die Welt neu zu erfinden. Dass er dabei erfolgreicher ist als viele seiner oft messianisch auftretenden Kollegen, die von Konzeptfussball salbadern und die aus einem im Grunde einfachen Spiel eine Wissenschaft machen wollen, empfinde ich mitunter sogar als echte Genugtuung. Fußball ist eben „das Runde muss ins Eckige“ und keine Quantenphysik.

Drei Mal hat der Sohn eines Milch- und Käsebauern aus Reggiolo die Champions League gewonnen. Keiner kann mehr vorweisen, auch nicht Pep Guardiola oder José Mourinho, die Ich-Maschinen aus Barcelona und Porto. Nicht umsonst heißt ein Buch von Ancelotti „Quiet Leadership“, übersetzt „Stille Führung“. Kurz gesagt: Der Gentleman aus der Emilia-Romagna ist ein Fels des traditionellen Fußballs inmitten eines immer größer werdenden Meers modernistischer Schaumschlägerei. Von der Führungskunst des Italieners zeugt auch eine Anekdote aus dessen Zeit bei Paris St. Germain. Vor einem wichtigen Spiel im Jahr 2013 schien Ancelotti angespannt zu sein. Daraufhin sei Zlatan Ibrahimovic, damals der Superstar des Teams, zum Coach gegangen und habe gefragt: ‘Glauben Sie an Jesus Christus?’ Ancelotti antwortete mit Ja. Die Antwort von Ibrahimovic: „Sehr gut, dann glauben Sie an mich. Jetzt können Sie sich entspannen.“ Dann schoss „Ibra“ 30 Tore in einer Saison, Paris wurde französischer Meister. Bis heute sprechen der exaltierte Schwede und „Carletto“ gut übereinander.

Der Gentleman aus der Emilia-Romagna

Auch die Aktion am vergangenen Wochenende nach dem Spiel seiner Münchner Bayern in Berlin hat mich nicht am Startrainer zweifeln lassen. Im Gegenteil. Seine Mittelfinger-Geste ist sicher nicht nachahmenswert, aber sie ist im Eifer des Gefechts gefallen, als Ancelotti nach einer hitzigen Partie – mit vielen umstrittenen Schiedsrichterentscheidungen – auf dem Weg in die Kabine von gegnerischen Fans angespuckt wurde. Was zeigt, dass dieser Coach kein kühler Sportroboter ist, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut mit echten Emotionen. Wer sich zu 100 Prozent sicher ist, dass er in einer solchen Situation nett und freundlich geblieben wäre, der möge den ersten Stein werfen. Aber selbst einen so ausgebufften Polit-Profi wie Helmut Kohl ließ es einst nicht kalt, als er 1991 in Halle an der Saale mit Eiern beworfen wurde. Mitten hinein ins Getümmel stürzte sich der frühere Bundeskanzler, um einem vermeintlichen Übeltäter die Leviten zu lesen. Mitarbeiter und ein Absperrgitter hielten ihn zurück.

Da in derart aufgewühlten Situationen mit Sicherheit auch anderen Fußball-Verantwortlichen die Hutschnur hochgegangen wäre, kristallisierte sich schnell so etwas wie eine allgemeine Meinung der Branche heraus. Selbst Vorstandsmitglieder und Trainer der größten Bayern-Konkurrenten, wie etwa Dortmund-Boss Hans-Joachim Watzke und Ralph Hasenhüttl, Trainer von RB Leipzig, sprangen Ancelotti bei. Und zumindest zeugt es von einer gewissen Coolness, wie geradlinig der Italiener in Interviews – unmittelbar nach der unglücklichen Aktion – seine Missetat zugab: „Ich habe diese Geste gemacht, ich bin vorher angespuckt worden“. Kein Ausweichen, keine Ausrede, kein Jammern. Nicht nur in Fußballverfahren, auch in echten juristischen Prozessen findet so etwas Berücksichtigung. Auch mildernde Umstände würden gewährt werden. Zudem hat sich der Coach – seitdem der in Deutschland ist – absolut untadelig verhalten. „Im echten Leben“ hätte das Gewicht.

Selbst Konkurrenten springen Ancelotti bei

Dass der Deutsche Fußballbund (DFB) seine Ermittlungen gegen den Trainer mit Zustimmung des DFB-Sportgesichts inzwischen eingestellt hat, ist deshalb eine richtige Entscheidung. „Grundsätzlich halten wir die menschliche Reaktion mit der Geste von Carlo Ancelotti auf die üble Spuckattacke für emotional nachvollziehbar“, erklärte etwa sein Arbeitgeber Bayern München in einer Pressemitteilung. Man muss kein Parteigänger des Rekordmeisters sein, um dem zuzustimmen.

Eine Strafe indes hätte ohnehin nur Alibicharakter gehabt. Mehr als eine Geldbuße oder eine kurze Spielsperre wäre selbst bei allerstrengstem Vorgehen nicht drin gewesen. Aber eine fünftstellige Geldsumme, selbst das hätte einen Mann von Ancelottis Einkommensklasse nicht wirklich belastet. Nun spendet der 57-Jährige angesichts seiner Verfehlung halt 5000 Euro an eine DFB-Stiftung. Und bei einer Spielsperre hätte eben 90 Minuten lang ein Co-Trainer die Verantwortung gehabt. Beim FC Bayern ist einer davon Ancelotti-Sohn Davide.

DFB hat richtig gehandelt

Doch nicht nur aus sportrechtlichen oder pragmatischen Gründen wäre eine formale Verurteilung des Meistertrainers ein Fehler gewesen. Emotionen sind das Salz in der Suppe des Fußballs. Echte Gefühle und klare Aussagen machen Sportler menschlich und damit auch letzten Endes sympathisch, auch wenn sie mal über die Stränge schlagen. Wenn jemand sich wirklich und ohne Anlass daneben benimmt, dann muss sicher eingeschritten werden. Je nach Grad der Verfehlung mit der jeweils angemessenen Konsequenz und Strenge. Wer aber bei jeder einzelnen ungeschliffenen Aussage oder bei jeder verwegenen Aktion die große Keule schwingt, läuft Gefahr, dem Sport jede Authentizität zu nehmen. Ansonsten gehört diese Welt bald nur noch aalglatten Schönrednern wie Oliver Bierhoff oder Philipp Lahm, deren wohlfeil gedrechselte, nichtssagende Phrasen man doch vergisst, noch bevor sie zu Ende geredet haben. Ich persönlich schalte um, wenn ich Lahm reden höre. Als Außenverteidiger, das gestehe ich gerne zu, war er Weltklasse.

Was Carlo Ancelotti dagegen betrifft, so sollte man hoffen, dass er der Bundesliga – so wie er ist – noch eine Weile erhalten bleibt. Echte Typen wie er sind selten geworden.

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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