Die Angriffe gegen Miriam Gössner

Eine Bestandsaufnahme. Versuch einer Erklärung. Appell.


Woher eigentlich diese heftigen Aversionen gegen Miriam Gössner? Ja: die Biathlon-Saison beginnt wieder. Und ich habe mir erlaubt in einem Forum darauf hinzuweisen, dass all die Forderungen nach Rücktritt und Platzmachen für Nachwuchs bei der im vergangenen Jahr viertbesten deutschen Biathletin doch etwas überzogen sein könnten. Ich mag meinen blinden Fleck haben. Ich verstehe Fantum nicht. Also ich kann nachvollziehen, wie das Phänomen entsteht, die Dynamiken begreifen, usw. Aber so richtig wütend über ein Sportereignis war ich zum letzten Mal nach Michael Schumachers erfolgloser Crashattacke gegen Jacques Villeneuve oder nach dem Abstieg des 1. FC Kaiserslautern 1996. Nun scheint im Fall Gössner etwas im Spiel zu sein, was über normale Gefühlswallungen hinausgeht. Und dann wird es doch interessant.

Die Fakten:

Gössner hatte im Alter von knapp 20 eine relativ starke Saison in der sie kurzfristig um die Weltcupspitze mitfuhr, zum Ende jedoch stark abfiel, dann, auch nach Verletzungen, eineinhalb schwache Jahre und etablierte sich im vergangenen Jahr wieder im gehobenen Durchschnitt mit einigen Spitzenresultaten.

Sie ist wie gesagt knapp die Nummer vier im Team und sehr eindeutig unter den besten sechs. Die deutschen Damen haben sechs Startplätze, da sollte alles klar sein. Doch eine knappe Mehrheit der aktiven Fans u.A. auf facebook möchte „Miri“ aus dem Team haben, nur selten widerspricht einmal jemand vehement. 4 Thesen:

1) Es ist eine Geschlechtersache.

Das scheint auf den ersten Blick absurd. Es treten ja ausschließlich Frauen gegeneinander an. Dennoch gibt es immer mal wieder Kommentare, die Gössner nahe legen, doch weniger Bilder für den Playboy zu machen (die fraglichen Bilder sind mittlerweile über 2 Jahre alt) oder doch bitte die Zeit mit dem Felix (Herrn Neureuther also) auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Das bei Gössner die Weiblichkeit stärker in den Mittelpunkt gerückt wird als bei anderen Läuferinnen lässt sich nicht leugnen, und ähnliche Attacken gegen eine ebenfalls attraktive gute, wenn auch nicht Ausnahmesportlerin, hatte 2004 die Volleyballerin Katie Radzuweit zu ertragen. Doch handelt es sich hierbei eher um Randphänomene, auch wenn die Hinweise auf die Playboyfotos in der Vergangenheit häufiger waren.

2) Das ist so ein deutsches Ding

Genauer: Lustfeindlichkeit, Wut auf- und Enttäuschung über die Abweichung. Der Radsportler Jan Ulrich kann ein Lied davon singen. Zwischen 1997 und 2005 der zweiterfolgreichste Radfahrer der Welt, wurde der jedes Frühjahr aufs Neue mit Fetten-Witzen überzogen, als Ulrich einmal in der Disko Ecstasy schmiss wurde daraus weniger ein Substanzmissbrauchs- als ein Feierskandal. Die Deutschen lieben den Schienensportler, der abseits der Erfolge praktisch keine Persönlichkeit mehr aufweist, so zumindest geht das Klischee. Michael Schumacher statt Damon Hill. Selbst Magdalena Neuner, everybodies Darling, wurde ob ihres frühen Rücktrittes hier und dort kritisiert. Immerhin habe sie eine Verpflichtung gegenüber Volk und Zoll. Und Gössner, die nicht immer den Sieg als Mittelpunkt ihres Lebens zu begreifen scheint, wirft man vielleicht vor allem das verschenkte Potenzial vor.

3) Die Herzkasper-Problematik

Abwechslung ist für den Fan anstrengender als Konstanz. Mit einem Athleten, der im Rennen mehrfach zwischen Siegchancen und Nullnummer schwankt sind in beide Richtungen stärkere Gefühle verbunden als mit einem ausgeglichenen Athleten. Erik Lesser etwa, der 2015 bis Ruhpolding nur ein einziges Top-20 Ergebniss aufzuweisen hatte, aber sauber schoss, wurde dafür eher sanft angefasst.

4) Das ist normal und war schon immer so

Hatte der Norweger Lars Berger, der gemessen an seinen Laufleistungen sicherlich auch stets weit unter seinem Potenzial blieb, unter Fans mit ähnlich heftigen Anfeindungen zu tun? Ich erinnere mich an Kritik, ja. Auch mal an dumme Sprüche. Auch, darin war Berger sicher besser als Gössner, von Berger selbst. Aber Rücktrittsforderungen? Verweise auf in dieser Stärke nicht vorhandenen Nachwuchs? Das nicht. Allerdings: Facebook war zu Bergers Zeiten noch nicht die prominente Schnittstelle für Debatten aller Art, die es heute ist. Und ich seltener online unterwegs. Vielleicht sind die Reaktionen auf Gössner nichts besonderes und nur ungefilterter wahrnehmbar?

5) Enttäuschte Liebe

Hass ist oft vor allem enttäuschte Liebe. Und Miriam Gössner ist nicht nur eine überragende Läuferin mit großen Problemen an Schießstand, sie erinnert darin auch an Magdalena Neuner und ihr Stern ging gerade auf, als Neuner sich verabschiedete. Damals fand wohl eine Übertragung der Fan-Sehnsüchte von Neuner auf Gössner statt, die in vielem so ähnlich schien. Diese Projektionsfläche (gewesen) zu sein, unterscheidet Gössner von anderen „Schießstand- Wundertüten“. Kombiniert man das anteilig mit 1), 2) und 3) lässt sich, was wahrscheinlich auch dieses Jahr nach den ersten durchwachsenden Ergebnissen wieder in Biathlongruppen abgehen wird, ganz gut erklären. Das macht die Sache natürlich nicht besser.

Wer einfach nur Spaß daran hat, Leuten dabei zuzuschauen, wie sie durch den Wald laufen und auf Scheiben schießen, sollte sich entspannt zurücklehnen. Zeigt sich im Verlauf der Saison, dass es sechs Läuferinnen gibt, die die Wald/Scheibengeschichte besser hinbekommen als Gössner, wird sie in den IBU-Cup zurückrücken, aus dem sich schon einmal mit guten Ergebnissen wieder hervor gekämpft hat.

Ansonsten freue man sich über gute Ergebnisse und betrauere schlechte, und tue was immer Fans eben tun, wenn sie sich nicht total in ein Thema hineinsteigern, dem diese Form der Emotionalität nicht bekommt.

Und wer ernsthaft immer noch meint, auf den Playboy-Fotos herumreiten zu müssen: Get a life!

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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