Terror und Identität

Im Terror und im Gedenken an die Opfer kommt die Fragmentierung der Gesellschaft zum Ausdruck. Thilo Spahl kritisiert die Kultivierung von Gruppenidentitäten und plädiert für die Trennung von Persönlichem und Politischem.


Am 12. Juni erschoss Omar Mateen im Nachtclub „Pulse“ in Orlando 49 Menschen und verwundete weitere 53. Selbstverständlich brachten viele ihre Anteilnahme zum Ausdruck. Aber nicht alle machten es auf Anhieb richtig. Angela Merkel wurde von Homosexuellenverbänden vorgeworfen, dass sie  die Tat nicht explizit als Angriff auf Lesben und Schwule gewertet habe. Sie hatte versäumt, die Opfer in die richtige Schublade zu stecken. Ein weiterer Mangel: Das Brandenburger Tor wurde nicht in Regenbogenfarben erleuchtet. Das wurde dann durch die Berliner Senatskanzlei schnell nachgeholt. Der Tagesspiegel berichtete:

Und es leuchtet doch. Während andere Metropolen ihre Wahrzeichen sehr bald nach dem Anschlag bunt anstrahlten, reagierte Berlin erst auf Proteste. Das Berliner Wahrzeichen leuchtete bereits nach den Anschlägen von Paris und Brüssel in den jeweiligen Landesfarben.  Auch der Funkturm leuchtete am Samstag abwechselnd in den Regenbogen-Farben, den Farben der Schwulen- und Lesbenbewegung.

Paris‘ Bürgermeisterin Hidalgo war schneller. Sie twitterte schon am 13. Juni:

Paris stands with Orlando. Tonight, The Eiffel Tower will be illuminated in the LGBT colours in honour of the victims #lovewins.

Am Pariser Rathaus waren zusätzlich zu riesigen Regenbogenbannern noch kleine amerikanische Flaggen zu sehen (Foto). Es zeigte, wie sich die Gewichte verschoben haben. Die Solidarität galt nicht mehr in erster Linie den amerikanischen Mitmenschen, sondern den schwulen. Kulturelle Identität hat an Bedeutung gewonnen, Nationalität ist weniger wichtig geworden.

Ist das positiv? Ist es gut, dass wir die Gesellschaft neu in Gruppen einteilen? Welche Botschaft sollte von Orlando ausgehen? Schwule und Lesben als Teil einer westlichen, offenen Gesellschaft, die sich der Herausforderung durch den Islamismus stellt? Oder Schwule als Opfer von Homophobie – überall auf der Welt?

Kult der Differenz

Nein, die starken Tendenzen der Bekräftigung der eigenen kulturellen Identität und der Abgrenzung gegenüber anderen (mitunter auch Abwertung anderer) sind keine positive Entwicklung. Es zeigt sich als Flucht in eine Art Stammesdenken, als Rückzug in eine Gemeinschaft an persönlicher Betroffenheit festgemachter kollektiver Identität.

Auf der Seite gay-tribe.com wird erklärt:

Neotribalismus ist kein Konzept. Es ist eine reale Antwort gesellschaftlich marginalisierter Gruppen als Reaktion auf die soziale Kontrolle durch die mächtige Weiße Rechte, die versucht, alternative Kulturen und den freien Ausdruck zu unterdrücken.

Auch in der Bezeichnung „LGBT-Menschen“, die von Aktivisten häufig genutzt wird, kommt das Bedürfnis zum Ausdruck, sich als grundsätzlich anders zu definieren. „Wir sind nicht wie Ihr“, lautet die Botschaft. Wir sind andere Menschen. Aber was soll das heißen? Ist man nicht einfach nur ein Mann, der lieber mit Männern Sex hat, oder eine Frau, die lieber mit Frauen schläft? Oder eine Frau, die sich als Mann fühlt, usw.?  Warum muss man daraus Identitäten basteln?

Am 22. Juni hisste das „House of Parliament“ in London die Regenbogenfahne „um so die Solidarität mit der LGBTIQ-Bevölkerung zu zeigen“, wird auf der Seite thinkoutsideyourbox.net berichtet.  Aber was soll das eigentlich sein, eine LGBTIQ-Bevölkerung? Und welche Bevölkerungen gibt es noch in Großbritannien?

Frauen, Männer, jede Menge ethnische Minderheiten (im Pulse in Orlando war in der Nacht des Anschlags Latino-Night), Dicke, Dünne, Behinderte, Veganer, jede Menge religiöse Minderheiten, FKK-Anhänger, Atheisten, Raucher, Radfahrer, Immigranten, Kosmopoliten, Autochthone, Junge, Alte, Punks, Schwaben in Berlin, Bänker, usw.  – Man kann sich ziemlich viele Gruppen vorstellen, deren Mitglieder Eigenschaften, Überzeugungen oder persönliche Vorlieben haben, die viele andere ablehnen, und die mitunter darunter zu leiden haben. Würde die Welt besser, wenn wir sie alle zu Bevölkerungen erklärten und in den Rathäusern Fahnen bereithielten, um ggf. Solidarität zum Ausdruck zu bringen?

Schwule wurden auch im Westen bis vor nicht allzu langer Zeit unterdrückt und kriminalisiert. Sie haben sich sehr erfolgreich dagegen gewehrt. Jetzt müssen sie aufpassen, dass sie nicht immer mehr als staatlich umsorgte Lieblingsminderheit vereinnahmt werden.

Gleichberechtigung und eine offene Gesellschaft erreichen wir, indem wir ein universalistisches Menschenbild verteidigen. Indem wir von weitgehender Gleichheit aller Menschen ausgehen. Indem wir Sonderbehandlung abschaffen, statt sie zu fordern. Nicht indem wir einen Wettbewerb entfachen, welcher Gruppe es gelingt, eine Gruppenidentität zu kultivieren und sich als besonders bedroht oder benachteiligt zu präsentieren. Nicht indem wir uns für Identitätspolitik, Opferkultur und eine Retribalisierung engagieren.

Die Identität des Täters

Auch Mateen zeigte während seiner Tat das Bedürfnis, seine Gruppenzugehörigkeit, zum Ausdruck zu bringen. Er bekannte sich zum IS. Auch bei ihm ging es um Identität. Um radikale Zugehörigkeit und radikale Abgrenzung.

Wir versuchen  zu verstehen. Warum macht ein Mensch so etwas? Was geht in ihm vor? Die einfachsten Antworten sind Ein-Wort-Antworten: Islamismus. Homophobie. Aber diese Antworten werden der Komplexität des Problems nicht gerecht.

Taten wie die von Orlando haben mit der Wahrnehmung von Identität und der Suche nach Identität zu tun. Er ist nun selbst tot und wir wissen nicht, was in ihm vorging. Aber es hat den Anschein, als fühlte sich Omar Mateen zum einen von Männern angezogen, zum anderen verabscheute er Homosexualität. Erst während der Tat bekannte er sich zum IS und traf dabei die in seinem Identitätskonflikt die denkbar schlechteste Wahl. Er gehörte wohl nirgends dazu und wollte doch irgendwo dazu gehören.

Der Soziologe Frank Füredi schreibt:

Radikaler Dschihadismus wird von Einzelnen genutzt, um ihren individuellen Taten eine größere religiöse oder politische Bedeutung zu verleihen.

Mateen hat keine Gehirnwäsche durchgemacht. Er hat keine Befehle erhalten. Er war ein kleines, bis zum Blutbad unbedeutendes, nihilistisches  Monster, das eigenverantwortlich gehandelt hat. Er hat seine Gefühle und wirren Überzeugungen so wichtig genommen, dass er dafür Dutzende Menschen ermordet hat.

Vielfalt und Werterelativismus

Wir leben in einer pluralistischen Welt und schätzen die Vielfalt. Die Kehrseite ist ein Werterelativismus, der es wahrscheinlicher macht, dass einige Individuen komplett die Orientierung verlieren. Wenn persönliche Angelegenheiten wie Sexualität, Religion oder Lebensstil politisiert werden, verstärkt dies indirekt den Prozess der Vereinzelung, schreibt Füredi. Und es kann zu einer starken Emotionalisierung in politischen Fragen und letztlich zu radikalen Handlungen wie Morden führen.

Wenn das Persönliche sich mit dem Politischen vermischt, kann die Suche nach Identität tödlich werden. Unter solchen Umständen werden Unterschiede in Lebensstil und Kultur nicht einfach als simple Differenzen erfahren, sondern als Bedrohung der Identität des Einzelnen.

Füredi plädiert daher dafür, das Persönliche vom Politischen zu trennen, damit unterschiedliche Lebensstile nicht zu „Kriegserklärungen“ werden.

Der Wert des Pluralismus besteht darin, die Vielfalt vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen zu sehen. Pluralismus, der mit dem Verfall universalistischer Werte einhergeht und eine Aufspaltung der Gesellschaft in viele Lobbygruppen in eigener Sache, ist eine ziemlich gefährliche Angelegenheit.

Thilo Spahl

Thilo Spahl ist Diplom-Psychologe und lebt in Berlin. Er ist freier Wissenschaftsautor, Mitgründer des Freiblickinstituts und Redakteur bei der Zeitschrift NovoArgumente.

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