Leicester statt Leipzig
Patzt Tottenham heute, dann hat England einen Überraschungsmeister: Leicester City. Eine solche Erfolgsstory scheint in Deutschland unvorstellbar, wo seit Jahren Bayern München und Borussia Dortmund dominieren – und künftig wohl nur von Werksclubs aus Leipzig und Wolfsburg ernsthaft gefordert werden.
Leicester, ausgerechnet Leicester. Leicester City, dem Underdog aus den Eastern Middlands ist es gelungen, die umsatzstärkste Fußballliga der Welt aufzumischen. Mit einem Remis gegen Manchester United verpassten die „Foxes“ gestern zwar den vorzeitigen Titelgewinn. Patzt Konkurrent Tottenham heute beim FC Chelsea, kann trotzdem die Meistersause steigen. Football is coming home – ein Traditionsclub mit wechselhafter Geschichte schafft das Fußballwunder, während die Giganten des Rasensports in die Röhre schauen. Irgendwie eine herrlich britische Fußballkuriosität.
Nahezu die ganze Saison führten die „Foxes“ die Tabelle der Premier League an. Fast immer lagen sie vor den Teams aus London und Manchester. Härtester Rivale war weder Arsenal, Chelsea oder ManU, sondern eben die nicht so hoch gewetteten Tottenham Hotspurs. Was für ein Unterschied zur Deutschen Bundesliga, in der einmal mehr Bayern München und Borussia Dortmund den Titel unter sich ausspielen. Und in der immer mehr Retortenteams klassische Traditionsmannschaften verdrängen.
Aktuell steht mit RB Leipzig der künstlichste aller Kunstclubs vor dem Einzug in die Bel-Etage, während eine so dicke Nummer wie Hannover 96 als Absteiger feststeht – und mit Eintracht Frankfurt, Werder Bremen und dem VfB Stuttgart drei weitere Dinosaurier deutscher Fußballkultur tief drin im Abstiegskampf stecken. Haben es die Briten besser?
Herz mit Millionen schlägt noch mehr Millionen
Richtig ist: Leicester City wird von einem thailändischen Investor dominiert und erhält dank der englischen Fernsehverträge weitaus mehr TV-Gelder als dies bei mittelmäßigen Teams in Deutschland der Fall ist. Ansonsen hätten die „Foxes“ den Großen wohl kaum ein Bein stellen können. Andererseits ist das Gefälle zu den Topteams wie dem FC Chelsea oder Manchster City – was Spielergehälter, Promifaktor und wirtschaftliche Möglichkeiten angeht – noch immer enorm. So heißt eine Korsettstange der Leicester-Abwehr Robert Huth. Das ist jener vierschrötige Abwehrrecke, der in jungen Jahren von Jogi Löw und seinem Vorgänger Jürgen Klinsmann ein paar Mal zu Nationalmannschaft eigeladen wurde, gewogen und für (fußballerisch) zu leicht beziehungsweise zu ungelenk befunden wurde. Auf der City-Außenbahn ist jener Christian Fuchs zuhause, der bei Mainz und Schalke 04 als ordentlicher, aber nie als herausragender Bundesliga-Profi galt.
Rainieri Vater des Erfolgs
Dass die „Foxes“ dennoch so abgehen, dürfte vor allem an Trainer Claudio Rainieri liegen. Der Römer hat ein homogenes, kompakt wirkendes Team geformt, das ebenso leidenschaftlich wie taktisch geschult auftritt. Aus talentierten Spielern wie Flügelspieler Riyad Mahrez und Jamie Vardy hat der Italiener herausragende gemacht. Der Algerier und der Engländer gelten inzwischen als die wertvollsten Kicker der Liga – und liegen damit vor so klangvollen Namen wie Mesut Özil, Alexis Sanchez (beide Arsenal), Eden Hazard (Chelsea), Wayne Rooney (ManU) oder Yaya Touré (ManCity). Zwar ist Leicester in letzter Konsequenz auch ein Millionen-Club, aber einer mit Herz, der es fertig bringt, gegen Teams mit noch mehr Millionen erfolgreich zu sein.
Gewiss sind die Persönlichkeit Rainieris, der vor der Saison noch Rauswurf-Favorit bei den Buchmachern war, und das Überraschungsmoment entscheidende Faktoren für den Höhenflug. Allerdings hätte ein deutsches Leicester (wie vielleicht der 1. FC Köln oder der VfB Stuttgart) derzeit wohl kaum die Chance, einem deutschen FC Chelsea (also Bayern oder Dortmund) den Rang abzulaufen. Sieben Jahre ist es her, dass letztmals ein Team, das nicht aus München oder der Ruhrmetropole kam, Deutscher Meister wurde. 2009 war dies der Volkswagen-Club VfL Wolfsburg, einer jener mit Konzern-Millionen gepäppelten Vereine, denen langfristig als einzigen zugetraut wird, in die Phalanx aus Bayern und Dortmund einzubrechen.
In Deutschland vermehren sich Retortenclubs
Mittlerweile tummeln sich mit Wolfsburg, Leverkusen (Bayer AG), Hoffenheim (SAP) und Ingolstadt (Audi) vier Quasi-Werksmannschaften in der höchsten Spielklasse, während Charakterclubs wie Kaiserslautern, Bochum, Braunschweig, St. Pauli, Düsseldorf, 1860 München und Karlsruhe fast schon zum Inventar des Unterhauses zählen. Die Liste der großen Namen im Liga Zwei wird so oder so weiter anwachsen – mit Brauseverein Leipzig dürfte indes das nächste Retortenprodukt bald das Ticket für das Oberhaus buchen. Ein ganzes Drittel der Bundesligavereine würde somit zu den Werksteams zählen.
Spätestens dann müsste die 50+1-Regel auf den Prüfstand gestellt werden, die eigentlich englische Verhältnisse, also die Übernahme von Mannschaften durch Großinvestoren, verhindern und den Mitgliedervereinscharakter der Bundesliga schützen soll. Aber was ist das für ein Schutz, der Traditionsvereinen Wettbewerbsfähigkeit nimmt und sie zu niederklassigen Schatten einstiger Größe werden lässt, während ein österreichischer Brausehersteller oder ein badisches Softwarehaus in der Provinz mit Konzerngeldern ihre In-Vitro-Clubs designen können. Das ist etwa so halbgewagt, wie das deutsche Ladenschlussgesetz, das Handelskonzerne in ihren Geschäftsmöglichkeiten beschneidet, Tankstellen aber gleichzeitig zu Supermärkten mit Zapfsäule mutieren lässt.
Tote Hose in Wolfsburg und Hoffenheim
Sicher, die Atmosphäre in den meisten englischen Stadien ist nicht mehr mit der Stimmung früherer Jahre zu vergleichen. Zuviel Modefans, die sich die extrem hohen Preise leisten können, haben vielfach alteingesessene Anhänger verdrängt. Wer aber einmal in Wolfsburg oder Hoffenheim im Stadion war, dürfte sich nach dem Ambiente in Manchester oder Liverpool sehen, wo Spiele von ManU oder den Reds immer noch für Gänsehaut sorgen. Und selbst im Stadion von Chelsea wird mehr geboten, als in allen SAP- oder VW-Arenen dieser Welt zusammen, in denen Konzernmitarbeiter und ihre Familien am Wochenende ihre Freizeit verbringen.
Als Eintracht Frankfurt-Fan wäre es mir allemal lieber, wenn mein Club mit den Geldern eines russischen Oligarchen oder eines thailändischen Milliardärs um die Euro League-Plätze mitspielt, als wenn er sich, puristisch-vereinsrechtlich aufgestellt, mit Heidenheim oder Greuther Fürth um die Mittelplätze von Liga Zwei balgt. Während RB Leipzig und der VfL Wolfsburg Kurs auf die Champions League nehmen.
Muss 50+1-Regel weg?
Wenn der DFB schon die Vereinsstruktur des deutschen Fußballs mit aller Konsequenz schützen will, warum dann nicht richtig? Warum nicht die Werksclubs vom sonstigen Bundesligageschäft separieren und ihnen ihre eigene Betriebssportliga schaffen? Natürlich losgelöst von allen FIFA- oder UEFA-Wettbewerben.
Höchstwahrscheinlich wird dies niemals passieren und der Deutsche Fußball deshalb Kurs auf die ultimative Langeweile nehmen. Und die könnte so aussehen: Bayern, Dortmund sowie die Werksteams gegen den kläglichen Rest. Erst dann wird man sich hoffentlich klar werden, dass gut gemeint oft das Gegenteil von gut ist – und die 50+1-Regel weg muss. Selbst ein mit thailändischen Millionen gepimpter Traditionsclub wie Leicester hat immer noch mehr Charakter, als es RB Leipzig trotz aller möglichen Erfolge je haben wird.
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