Köln: Gefühl des Kontrollverlusts

Immigration bringt Probleme, über die offen und sachlich diskutiert werden muss.


Knapp zwei Wochen nach den Ereignissen am Kölner Hauptbahnhof wissen wir zwar immer noch nicht ganz genau, was sich zugetragen hat, wir hatten aber ausgiebig Gelegenheit, Einschätzungen zu hören, die, wenn sie veröffentlicht werden, ja immer zugleich Ergebnis einer Meinungsbildung des Autors und Beitrag zur Meinungsbildung der Leser sind.

Was lernen wir aus der Debatte? Wenn wir grob in zwei Lager spalten, konnten wir Dramatisierung und Verharmlosung erleben. Wie sollte es bei einem heiklen Thema anders sein? Zu den Verharmlosern zählte wohl zunächst die Polizei, die berichtete, die Silvesternacht sei friedlich verlaufen, und, nachdem sich Berichte von Opfern und Zeugen mehrten, verschwieg, dass unter den Verdächtigen auch Flüchtlinge waren. Sie wurde zu recht scharf kritisiert.

Die Dramatisierung basierte zum einen auf der Logik der Medien, die Aufmerksamkeit generieren müssen, zum anderen auf dem Bemühen derer, die mit Köln den Nachweis führen wollten, dass es in der Flüchtlingspolitik nicht so weitergehen könne. Sie zeigte sich zunächst bei der Wortwahl zur Bezeichnung des Ereignisses. Die Rede war von einer „Horrornacht“, „Horror-Silvester“, „Schreckensnacht“, „Gewaltrausch“, usw. – Vokabular, das an Ereignisse mit vielen Toten und Verletzten wie Terrorangriffe, Naturkatastrophen, Amoklauf oder Massenpaniken erinnern.

Diebstahl oder Sexualdelikt?

Auf der Ebene der konkreten Vorkommnisse hatten wir es mit zwei Deliktgruppen zu tun: Diebstahl und Sexualdelikte. Die Darstellung ging zunächst eher in die Richtung, dass Diebstahl im Vordergrund stand und das Begrapschen nur Mittel zu Zweck war, da es geeignet ist, Opfer stark abzulenken. Im weiteren Verlauf der Aufnahme von Anzeigen und Zeugenaussagen wurde dies relativiert und die Sexualdelikte stärker betont. Zuletzt war von über 500 Strafanzeigen die Rede, wobei in rund 40 Prozent der Fälle auch wegen Sexualdelikten ermittelt werde (Stand 11.01.). Insgesamt entstand der Eindruck, dass die sexuellen Übergriffe als das gravierendere Delikt betrachtet wurden. Wer Diebstähle betonte, galt eher als Verharmloser. Wer die sexuellen Aspekte als weniger schlimm einstufte, sprach eher von „Begrapschen“. Besonders hart wurde in dieser Hinsicht Jakob Augstein für einen Tweet kritisiert, in dem er von „ein paar grapschenden Ausländern“ sprach. Häufig wurden Bezeichnungen wie „sexuelle Übergriffe“, „Sexualdelikte“ oder „Sexattacken“ gewählt. Feministinnen starteten die Kampagne #ausnahmslos, in der sie sich, wenig verwunderlich, ganz auf das Problem „sexualisierte Gewalt“ und auf die „Schutzbedürftigkeit aller Menschen“ konzentrierten. Überraschenderweise dürfte am Ende die Zahl der tatsächlichen Sexualdelikte sehr gering gewesen sein. Grund dafür ist, dass Begrapschen und auch das Herunterziehen des Slips nach deutschem Recht keine Straftat darstellt, wie die Strafrechtlerin Tatjana Hörnle in der FAZ ausführte. Die Tatbestände der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung, für die „erhebliche sexuelle Handlungen“ unter Gewaltandrohung bzw. Gewaltanwendung vorliegen müssen, dürften nur in sehr wenigen Fällen gegeben gewesen sein. Das Gros wird wahrscheinlich als „Beleidigung auf sexueller Basis“ eingestuft.

Kontrollverlust

Strafrecht und Unrechtsempfinden scheinen hier also auseinanderzuklaffen. Strafbare Diebstähle werden als eher nicht so schlimm, nicht strafbares Begrapschen dagegen als derart bedrohlich empfunden, dass eine ganze Forderungs- und Ankündigungsflut zu möglichen Verschärfungen im Straf- und Asylrecht losgetreten wurde. Woran liegt das? Wahrscheinlich war es das Ausmaß des Geschehens und das daraus resultierende Gefühl, dass hier etwas außer Kontrolle geraten ist. Das bestätigte jene, die schon seit Langem die gesamte Einreisewelle als einen großen Kontrollverlust kritisieren und hier Gelegenheit fanden, sich und anderen plastisch vor Augen zu halten, was uns drohe. Es hat aber zweifellos auch viele entsetzt, die der Aufnahme von Asylsuchenden positiv gegenüber stehen und denen nun auch etwas mulmig wurde – nicht nur wegen der zu erwartenden Reaktionen von Pegida und Co., sondern auch weil sie verunsichert wurden. Oh je, werden einige gedacht haben, was, wenn das mit der Integration doch nicht so problemlos läuft?

Das Entsetzen über die Vorkommnisse in Köln kann nicht als Ausländerfeindlichkeit abgetan werden. Es ist wahrscheinlich, dass die Reaktionen nicht viel anders gewesen wären, wenn es sich nicht um Immigranten, sondern um Rocker, Fußballfans, Volksfestbesucher oder sonst eine Gruppe gehandelt hätte. Das beunruhigende Gefühl des Kontrollverlusts wäre in allen Fällen das gleiche gewesen. Solche Zustände will keiner haben.

Organisierte Kriminalität?

Etwas irritierend war der Vorstoß u.a. von Heiko Maas, die Vorkommnisse in den Bereich der Organisierten Kriminalität einzustufen. „Das Ganze scheint abgesprochen gewesen zu sein,“ sagte er am 6. Januar im ZDF-„Morgenmagazin“. „Es wäre schön, wenn das keine organisierte Kriminalität wäre, aber ich würde das gerne mal überprüfen, ob es im Hintergrund Leute gibt, die so etwas organisieren.“ So etwas passiere nicht aus dem Nichts, es müsse jemand dahinterstecken. Wollte Maas damit erreichen, die Bedrohungslage als noch gravierender darzustellen? Oder war das ein Versuch, Flüchtlinge als die Opfer von Drahtziehern im Hintergrund darzustellen? Wie auch immer: Die plausiblere Erklärung scheint zu sein, dass man sich einfach zu Silvester an einem für alle zugänglichen zentralen Ort verabredet hat, um in irgendeiner Weise zu feiern, teilweise sicher auch mit der Absicht, die Sau rauszulassen, mit Alkohol, Böllern und Raketen und ggf. auch dem Anmachen von Passantinnen, ohne sich wahrscheinlich vorab konkrete Gedanken über den Grad der Übergriffigkeit zu machen. Jene, die auch vor der Silvesternacht, regelmäßig als Antänzer unterwegs waren, machten sich zudem sicher auch Hoffnung auf besonders große Ertragsmöglichkeiten. Was schließlich geschah, ist wohl als Prozess der Enthemmung zu bezeichnen, ein von der spezifischen Situation getragenes Gruppenphänomen – was natürlich keinen Einzigen der Beteiligten von seiner persönlichen Verantwortung entlastet.

Ausländer oder Flüchtlinge?

Eine seltsame Diskussion entbrannte um die Frage, wie frisch die Flüchtlinge seien. Gehörten sie zu jener großen Welle der zweiten Jahreshälfte 2015 oder waren sie schon länger im Land? Je frischer, so der Eindruck, desto schlimmer. Der Gedanke dahinter war wohl, dass neu eingereiste Straftäter besser für die Kritik an der Politik Angela Merkels herhalten konnten als solche, die schon vor der großen Öffnung zu uns gekommen sind. Zudem gelten die in diesem Jahr hauptsächlich eingereisten syrischen Flüchtlinge vielen als gute Einwanderer, weil „echte“ Flüchtlinge (und keine „Wirtschaftsflüchtlinge“). Ihre Tatbeteiligung konnte nun zum einen dafür herhalten, zu sagen: Seht her! Das sind auch keine Musterflüchtlinge, sondern genauso potenzielle Verbrecher, die wir besser nicht ins Land lassen. Zum anderen konnte man argumentieren, dass der unkontrollierte Zustrom es allen möglichen Subjekten erlaube, sich unter die Flüchtlinge zu mischen. Der Wunsch, mehr Kontrolle zu haben, ist nachvollziehbar, aber illusorisch. Einen Sortiermechanismus für gute und schlechte Immigranten wird man nicht finden. Eine offene Gesellschaft muss damit leben, dass sie sich ihre Mitglieder nicht aussucht, sondern dafür sorgt, dass sie miteinander auskommen.

Wende in der Flüchtlingspolitik?

Die Kölner Silvesternacht hat gezeigt, dass Flüchtlinge nicht nur Opfer sind, sondern auch Täter sein können. Das ist keine große Überraschung und nichts, was man verleugnen sollte. Insofern hat die teilweise emotionale und hitzige Debatte dafür gesorgt, sich einmal mehr mit den Herausforderungen der gegenwärtig starken Einwanderung zu beschäftigen. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Ereignis sollten wir zu einem relativ objektiven Bild der Vorfälle kommen und eine sachliche Diskussion über daraus zu ziehende Lehren führen. Eine Wende in der Flüchtlingspolitik, die ja heißen müsste, die Grenzen dicht zu machen, wird es hoffentlich nicht geben. Und auch den vielfachen Rufen nach mehr Überwachung des öffentlichen Raums, Polizeipräsenz und Rechtsverschärfung aufgrund der „Schutzbedürftigkeit aller Menschen“ sollten wir mit Skepsis begegnen.

Thilo Spahl

Thilo Spahl ist Diplom-Psychologe und lebt in Berlin. Er ist freier Wissenschaftsautor, Mitgründer des Freiblickinstituts und Redakteur bei der Zeitschrift NovoArgumente.

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