Unser gerechter Krieg
Der IS ist mit militärischer Gewalt alleine nicht zu besiegen. Ohne militärische Gewalt indes erst recht nicht. Pazifismus kann sich nicht einfach dieser Problematik entziehen, nur der Reinhaltung seiner Prinzipien wegen.
Die Erfolge des so genannten „Islamischen Staats“ offenbaren einmal mehr die Dilemmata, denen sich humanistisches Denken in Zeiten des asymmetrischen Krieges ausgesetzt sieht.
Denn tendenziell haben wir uns, unter anderem aufgrund der Erfahrungen mit der relativ gewaltlosen Selbstauflösung des sowjetischen Blocks, angewöhnt, friedliche Lösungen von Konflikten stets gewaltsamen vorzuziehen. Doch immer wieder steht eine solche generelle Friedfertigkeit Situationen gegenüber, in denen kategorische Antworten nicht greifen. Radikale Gruppierungen, deren politischer Zweck das Morden und die Verbreitung von Angst ist, wählen gezielt Zivilisten als Opfer aus, gehen gegen eigentlich friedfertige Menschengruppen und Staaten mit äußerster Gewalt vor.
Die Situation in Syrien und Irak ist dabei nur ein neuer Höhepunkt eines schon länger bestehenden Konfliktes, der die Notwendigkeit veranschaulicht, grundsätzlich sogenannte „westliche Werte“ neu zu überdenken und gegeneinander abzuwägen. Der in Deutschland vordergründig besonders hochgehaltene Grundsatz, in Krisengebieten nur im Rahmen eines UN-Mandats zu intervenieren und keine Waffen an Kriegsparteien zu liefern, muss mit dem humanistischen Imperativ vermittelt werden, dem Morden in Syrien und Irak, das schnell genozidale Maßstäbe annehmen kann, nicht tatenlos zuzusehen.
Das „Prinzip Käßmann“
Besonders eindringlich wies darauf im Rahmen eines Interviews im ZDF-„heute journal“ der erklärte Pazifist und Gründer des Hilfswerkes Cap Anamur, Rupert Neudeck, hin. In einem mustergültigen Fall eines gelungenen Paradoxienmanagements löst Neudeck die inneren Konflikte, die sich bei ihm als erklärtem Gegner jedweden Krieges ergeben müssen, auf, indem er widerstreitende Prinzipien der Situation entsprechend gewichtet. Obwohl er Gewalt im Prinzip ablehne, so Neudeck, sei er nicht bereit, Menschen sterben zu lassen, „nur wegen der Reinheit seiner Philosophie“. Neudeck lässt die gegeneinanderstehenden Prinzipien gelten, und betrachtet die Situation genau.
Alle Versuche, der Krise rein humanitär zu begegnen, sind gescheitert. Die Bevölkerung der vom IS besetzen Gebiete wird von dieser „Verbrecherbande“ terrorisiert und im Falle der Jesiden sogar mit der Auslöschung bedroht. Wer in die Fänge des IS gerät und nicht sofort zum sunnitischen Islam konvertiert, wird, unzählige Videos zeigen es, bestialisch ermordet. Aus diesem Grunde kann Neudeck, seinem Pazifismus zum Trotz, aber in Übereinstimmung mit dem humanistischen Ideal, das diesem Pazifismus zugrunde lag, zum Schluss kommen: Die kurdischen Peschmerga müssen in der gegebenen Situation in jedem Fall unterstützt werden, auch mit Waffen aus Europa und gegen ehemals hochgehaltene Grundsätze.
Eine folgerichtige und beeindruckende Abwägung, auf deren Basis auch der erweiterter militärischer Beitrag Deutschlands, wie er heute vom Bundestag beschlossen wird, gerechtfertigt ist. Beeindruckend deshalb, weil Pazifisten und große Teile einer sich zumindest rhetorisch humanistisch gebenden Linken in den vergangenen Jahrzehnten und besonders seit den Anschlägen von al-Qaida auf das World Trade Center regelmäßig die Reinheit der Philosophie über die konkrete Bedrohung von Menschenleben gestellt haben.
Mit dieser Haltung hat sich auch immer wieder Margot Käßmann hervorgetan, die angesichts der Bedrohung durch die Mörderbanden des IS vollmundig erklärte, es könne unter keinen Umständen einen „gerechten Krieg“ geben. Diese Art, die oben beschriebenen Widersprüche aufzulösen, indem sie nur einen Wert gelten lässt und die widerstreitenden verleugnet oder verdrängt, kann aufgrund der Prominenz der Protagonistin gut als „Prinzip Käßmann“ bezeichnet werden.
Das hat für den so Denkenden natürlich einige Vorteile. Denn hier agiert man sicher innerhalb eines absolut gültigen und unveräußerlichen Wertsystems. Das verleiht Stabilität, die im Fall der ostentativ Friedensbewegten mit der Zeit deren gesamtes persönliches Profil ausmachen kann. Doch auch der Kritiker hat es mit dieser Haltung leicht: Überraschende Abweichungen vom Prinzip sind nicht zu erwarten, diesem jedoch ist das Scheitern an den eigenen Ansprüchen (hier: Leid zu verhüten), vorzurechnen. Denn dem ganz realen Massenmord in Syrien und Nordirak steht ein rein fiktives „es könnte noch schlimmer kommen“ gegenüber, nachdem sich ebenso der Einsatz der Westalliierten gegen den Nationalsozialismus verboten hätte.
Unchristlich und unsolidarisch ist diese Haltung noch dazu. Auch nur einen Menschen leiden zu sehen und zu sagen: „Dir helfe ich nicht. Das verstößt gegen meine Prinzipien“, ist mit dem Ideal der Nächstenliebe kaum zu vereinbaren. In diesem Sinne muss Neudecks Argumentation auch als implizite Kritik am Pazifismus gelesen werden.
Zwischen Moralismus und militärischer Intervention
In der Genese vom radikalen Pazifismus stark verschieden, in ihren Effekten aber ähnlich ist die dominierende Haltung der offiziellen deutschen Politik im vergangenen Jahrzehnt. Hier werden die von Neudeck gegeneinander abgewogenen Widersprüche zwar durchaus zur Kenntnis genommen, und womöglich sogar hitzig debattiert. Auf die Frage, welche konkreten Schlüsse zu ziehen und welche Handlungen abzuleiten seien, gibt die Politik dann höchst ungern eine Antwort. Aussitzen und auf den Wählerwillen schielen ist die Direktive, angesichts der sehr militärkritischen deutschen Grundstimmung schleicht sich so der Pazifismus auch beim Nicht-Pazifisten durch die Hintertür wieder ein.
Für den psychischen Haushalt aller Beteiligten kann das förderlich sein, denn es hat sich eingebürgert, dass der, der nicht handelt (oder durch Nichthandeln handelt), seine Hände in Unschuld wäscht, und denen, die sich der manchmal schmerzhaften Notwendigkeit in Konflikte einzugreifen nicht entziehen oder es nicht können (im Westen vor allem die USA, manchmal Großbritannien und Frankreich, sowie Israel), im Anschluss genüsslich etwaige Fehler vorrechnet.
Zuletzt lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen an friedlichen Lösungen orientiertem Moralismus und konkreter militärischer Intervention auch kasuistisch lösen. Aufgrund einer Reihe von Präzedenzfällen entscheide ich dabei über den jeweiligen Einzelfall. Womöglich lasse ich einmal die eine, friedliche, dann wieder die andere, kämpferische Prämisse, absolut gelten. Das ist legitim und kann zu einem gelungenen Paradoxienmanagement wie bei Neudeck führen, tendiert aber leicht dahin, in opportunistische Lösungen (man unterstützt beispielsweise verbündete Staaten auch im Unrecht) oder in eine Apologetik des „das haben wir schon immer so gemacht“ umzuschlagen, die das wertgeleitete Denken zu überlagern droht. In diesem Fall sind die Entscheidungen zwar immer klar und eindeutig, weil mit früherem Verhalten begründbar, doch die Entscheidungstragenden entbinden sich von der letztendlichen Verantwortung.
Die heute Entscheidung des Bundestages bedeutet eine Trendwende in der deutschen Außenpolitik. Eine Trendwende, deren zugrunde liegende Ideale in jeder Situation neu überdacht werden müssen, die sich nicht verselbstständigen darf, und die sich davor hüten sollte, aus der derzeitigen Gebotenheit eines militärischen Eingriffs die generelle Überlegenheit offensiver Interventionspolitik herzuleiten.
Doch jetzt gilt es konsequent zu handeln: Sichern wir den vom IS bedrohten Menschen im nahen Osten unsere (militärische) Unterstützung so lange zu, bis die Verbrecherbande tatsächlich besiegt ist. Und nicht, bis irgendein neues innen- oder außenpolitisches Ereignis unsere Aufmerksamkeit woanders fesselt.
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