Die Grenzen der direkten Demokratie

Direkte Demokratie ist en Vogue. Für große politische Entscheidungen taugt sie indes nichts. Für die Parteien sehr wohl.


Hugh, das Volk hat gesprochen! Kein Olympia nach Hamburg. Per Plebiszit entschieden. Bei den NOlympia-Anhängern ist der Jubel über die aus ihrer Sicht richtige Entscheidung groß und so manch einer sieht in der direkten Entscheidung aller Wahlberechigten die beste Form der politischen Partizipation in allen Belangen unseres Staates. Doch dieses Ideal von direkter Demokratie, wie es einst nur radikale Linke vertreten haben, ist geradezu naiv.

Ob es darum geht, ein lang beschlossenes Verkehrsprojekt zu stoppen, oder ob ebendie Frage nach einer Olympia-Bewerbung entschieden werden soll: Wann immer fehlende Teilhabe an politischen Entscheidungen beklagt wird, soll direkte Demokratie die Lösung bringen. Indes: was im Falle von Olympia sinnvoll erscheint,  lässt sich nicht ohne weiteres auf alle politischen Entscheidungen übertragen. So möchte manch einer gar Bundeskanzler und Minister direkt wählen lassen. Die Freunde der Volksabstimmung kommen dabei aus allen Lagern, sie lassen sich bei AfD und Grünen ebenso finden, wie in den großen Volksparteien.

Radikale zieht es eher zu den Urnen

John Stuart Mill, der in seinem Aufsatz „Über die Freiheit“ zahlreiche noch heute gültige Grundsätze eines liberalen Gemeinwesens formulierte, würde es kalt den Rücken herunterlaufen. Mill hielt fest, dass die Freiheit des Einzelnen nicht nur vor der Tyrannei der Eliten beschützt werden müsse, sondern auch „vor der Tyrannei der vorherrschenden Meinungen und Gefühle, der Tendenz der Mehrheitsgesellschaft, ihre eigenen Ideen und Gewohnheiten anderen als Regel aufzuzwingen“. Diese Tyrannei kann direkte Demokratie befördern.

Damit soll nicht gesagt sein, dass direkte Demokratie in einer liberalen Gesellschaft keinen Platz hat. Wird sie, wie etwa in den USA, vom Subsidiaritätsprinzip flankiert, kann sie das Mittel der Wahl sein, große Teile der Bevölkerung in politische Prozesse einzubinden. Volksabstimmungen, wie sie in der deutschen Debatte meist gefordert werden, läuten dagegen regelmäßig die Stunde der Demagogen ein. Gut organisierte Lobbygruppen können in solchen Abstimmungen leicht Mehrheiten organisieren, heterogene Gruppen und Minderheiten ohne Lobby fallen durchs Raster. Die einfachen Pro/Contra-Fragestellungen polarisieren zusätzlich, Radikale zieht es eher zu den Urnen als Menschen mit vorsichtigerer Meinung.

Man möchte sich nicht fragen, was geschähe, könnten die Einwohner Duisburgs angesichts der Konflikte mit Einwanderern derzeit über die städtische Asylpolitik abstimmen. Aber auch andersherum: Zahlreiche im Nachhinein positiv beurteilte Entscheidungen, allen voran die deutsche Wiedervereinigung, wären in einer direkten Demokratie wahrscheinlich gescheitert. In Anlehnung an Mill lässt sich formulieren: „Um freie Menschen zu schaffen, muss man die Erde erhalten, in der sie wachsen.“

Innerparteiliche Direktdemokratie

Das einzige System gesellschaftlicher Organisation, das dies bisher mit einiger Sicherheit gewährleisten konnte, ist die parlamentarische Demokratie. Die Dynamik der Masse bremst sie durch „Checks and Balances“ aus. Ein Mehrparteiensystem, in dem Koalitionen gebildet und Oppositionen überzeugt werden müssen, entschärft antagonistische Konflikte und stellt die Debatte vor die Entscheidung.

Das freie Mandat verhindert, dass hochgekochte Stimmungen sich ungefiltert in der Tagespolitik niederschlagen. Und nicht zuletzt muss auch innerparteilich die politische Linie immer wieder neu verhandelt werden. Neue Gesichter drängen nach, Machtkonstellationen verändern sich; idealerweise ohne dass dadurch jedes Mal das System in eine Krise gerät, wie es bei direkten Mehrheitsentscheiden zu beobachten wäre.

Demokratie, richtig verstanden, ist eine Staatsform, die seit 225 Jahren – noch länger, bezieht man Monarchien mit starkem Parlament mit ein – erstaunlich funktional und stabil ist. Von direkter Demokratie lässt sich nichts Vergleichbares sagen.

Doch die Krise des Parlamentarismus ist offenkundig. Das Bedürfnis nach einer neuen Form der Teilhabe ist so groß geworden, dass sich mit den Piraten eine ganze Partei darüber konstituieren konnte. Und vielleicht sind die Parteien genau der richtige Ort, um ein Mehr an direkter Demokratie auszuprobieren.

Strukturelle Probleme in den Parteien

„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es im Grundgesetz. Das gelingt, wenn sie als zentraler Ort des politischen Engagements wahrgenommen werden. Heute allerdings gilt parteipolitisches Engagement vielfach als uncool. Gerade die tragenden Säulen des Parlamentarismus, in denen engagierte Bürgerinnen und Bürger mit ähnlichen Zielen und Idealen zusammenkommen, wo also der Grundstein für die Souveränität des Volkes gelegt wird, erodieren.

Dass Parteien von vielen Menschen nur noch als Institutionen zur Ämterbeschaffung wahrgenommen werden, stimmt bedenklich. Ebenso das Anwachsen der Kluft zwischen Basisaktivisten und Berufspolitikern. Fast alle Parteien verzeichnen heute mehr Aus- als Eintritte. Und das ist nicht einfach dem Zeitgeist geschuldet, sondern weist auf strukturelle Probleme innerhalb der Parteien hin.

Um zum Beispiel an einem Bundesparteitag teilzunehmen, muss man sich in den etablierten Parteien einer dreifachen Selektion stellen: auf Bezirksebene, auf Landesebene und auf Bundesebene. Oberhalb der Kreisebene werden alle Wahlen durch Delegierte vorgenommen, die Basis hat relativ wenig mitzureden. Zudem ist das Stimmrecht bei solchen Wahlen übertragbar, was Machtkonzentration in wenigen Händen begünstigen kann. Auch gewinnen viele nachrückende Parteimitglieder den Eindruck, dass der Einfluss der Etablierten darauf, wer überhaupt aufsteigt, übermächtig sei. Man nimmt wahr, wie Stimmverhalten abgesprochen wird und Mehrheiten von Funktionsträgern organisiert werden. Das demotiviert. Engagierte Mitglieder werden heute von der Arbeit in der Partei tendenziell abgeschreckt. Das muss sich ändern. Das kann sich ändern. Warum nicht ausnahmsweise tatsächlich von den Piraten lernen?

Die Dosis macht ein Ding zu Gift

Die Delegiertenwahlen zum Beispiel waren organisatorisch früher sicherlich sinnvoll. Als Reisen teuer war, gab es keinen anderen Weg, die Basis an übergeordneten Entscheidungsprozessen teilnehmen zu lassen. Heute könnte und sollte man aus den oben genannten Gründen Delegiertenwahlen öfter durch Basisabstimmungen ersetzen. Das Internet macht es möglich. Direktere Demokratie im Rahmen der Parteistrukturen ist denkbar.

Kampfabstimmungen und polarisierende Debatten könnten hier für Attraktivität sorgen und es für junge Aktivisten interessanter machen, sich einzubringen. Natürlich muss nicht gleich jede Abstimmung basisdemokratisch laufen und auch die Hierarchien nicht abgeschafft werden. Es gilt wie so oft der Satz des Paracelsus: „Kein Ding ist ohne Gift, allein die Dosis macht ein Ding zu Gift.“

Die Parteien sollten versuchen, die Strukturen zu demokratisieren, aus reinem Eigeninteresse. Denn hält der derzeitige Mitgliederschwund an – setzt sich die Legitimationskrise der parlamentarischen Demokratie fort –  ist nicht auszuschließen, dass außerparlamentarische Opposition und Volksentscheid mittelfristig das bewährte Modell verdrängen.

Hasso Mansfeld

Mit seinen Kampagnen Ostpakete für den Westen und Bio goes Lifestyle setzte Hasso Mansfeld gesellschaftliche Akzente. Er ist Diplom-Agraringenieur und fand durch seine Karriere in der Markenartikel-Industrie zur Publizistik. Viermal wurde er mit dem deutschen PR-Preis ausgezeichnet. Gemeinsam mit Christoph Giesa organisierte er die Facebookkampagne „Joachim Gauck als Bundespräsident“ und hat die liberale Ideenschmiede FDP Liberté im Netz initiiert. Mansfeld trat als Kandidat der FDP für die Europawahl an. Hasso Mansfeld arbeitet als selbstständiger Unternehmensberater und Kommunikationsexperte in Bingen am Rhein.

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