Ein reaktionärer Ästhetizist?
In eine Reihe mit Martin Mosebach stellte Necla Kelek in ihrem Gastbeitrag Navid Kermani. Dabei klammert sie wichtige Teile aus dessen Werk aus, findet Kolumnist Sören Heim.
Der naive Katholik
Das Kapitel ist mit Abstand das längste im Buch. Und es ging mir unglaublich auf die Nerven. Es handelt von Pater Paolo Dall’Oglio der als vom Islam faszinierter Katholik in Mar Elian einen katholischen Konvent führt. Der dem christlichen Glauben treu bleibt und dennoch im Kontakt mit der Bevölkerung und in der dort zelebrierten Ästhetik an die lokalen Formen des Islam, besonders an meditative Übungen des Sufismus, anschließt. Pater Paolo versucht später in wahrscheinlich hoffnungslos naiver Weise sich für in die Hände des „Islamischen Staats“ gefallene Freunde einzusetzen, und wird selbst entführt. Sein Verbleib ist bei Drucklegung von Navid Kermanis Ungläubiges Staunen: Über das Christentum unklar. Der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels schildert die Geschichte, mit der auch seine Friedenspreisrede anhebt, eindringlich, wie einen spannenden Roman, dessen schlechten Ausgang der Leser schon ahnt und der dennoch zum Mitfiebern, Mitleiden, mit Verzweifeln hinreißt. Auf die Nerven ging das Kapitel mir, weil es wie ein Fremdkörper in dem ansonsten auf ästhetische Betrachtung fokussierten Buch steckte. Es störte. Mittlerweile denke ich, vielleicht mit gutem Grund. Denn es verstört auch.
Die vernichtende Kritik und ihre blinden Flecken
So sehr scheint es zu verstören, dass die hochpolitische (und zugegeben, von dem Kermani eigenen, manchmal kitschigen Pathos nicht freie) Auseinandersetzung mit dem Leben Paolo Dall’Oglios in Necla Keleks harscher Kritik an Kermani generell und an dessen Ungläubiges Staunen im Besonderen einfach übergangen wird. Das vernichtende Urteil:
„Kermani versucht die erlösende Meistererzählung zu liefern, die Großdeutung in dem er Religion zum rein ästhetisches Erleben verklärt. Damit werden Christentum und Islam zu Religionen des Konsens und der Mystik, des allgemein menschlich Erhabenen wie sie Hans Küng mit seinem Weltethikprojekt propagiert hat. “
wäre sonst auch nicht ohne Weiteres aufrecht zu erhalten. Zumindest hätte man es stärker zu begründen als anhand eines recht wahllos herausgegriffenen Zitates:
„Und Glaube ist streng genommen sogar die Auslöschung des Ich. (…) Auslöschung des Ich – das klingt ja nach Faschismus. Dabei geht es genau darum: Dass unsere Individualität reicher wird, wenn wir sie ins Allgemeine wenden und das eigene kleine Ich hintenanstellen“,
aus welchem die profilierte Islamkritikerin folgert: „Hier redet einer dem Kollektivismus, im Islam hat man dafür den Begriff Umma, das Wort. Das ist tatsächlich im klassischen Sinne reaktionär.“
Dass die, als Hinwendung ans Allgemeine durch Konzentration aufs Besondere, ja deutlich präzisierte, „Ich-Auslöschung“ in jeder angestrengten geistigen Auseinandersetzung (zeitweilig, flüchtig) mit einem Gegenstand erfahren werden kann (auch ganz säkulare Künstler wissen davon ein Lied zu singen!), möchte sich Kelek gar nicht erst zu denken gestatten. Vielleicht kann man Kermani mit gutem Recht vorwerfen, dass er als Religionsvermittler ähnlich naiv vorgeht wie sein Pater Paolo – guten Gewissens mit Martin Mosebach in eine Reihe stellen kann man ihn nicht.
Kunst und die immanente Kritik der Religion
Dass Keleks Kermani-Exegese zutiefst eklektisch daherkommt wird nicht zuletzt auch daran deutlich, dass sie davon schweigt, wie Kermani in Ungläubiges Staunen immer wieder jene Momente herausarbeitet, in denen religiöse Kunst über sich selbst hinaus drängt, in denen also Religion in Religionskritik umschlägt, wie überhaupt das scholastische Beharren darauf, dass Gott mit Vernunft zu begreifen sei und die Wege des Herrn eben alles andere als unergründlich seien, notwendige Vorbedingung und Ausgangspunkt aller Aufklärung im europäischen Spätmittelalter waren. Mit den Worten des Religionszertrümmerers Friedrich Nietzsche:
„Aber der Kampf gegen Plato … denn Christentum ist Platonismus fürs Volk, hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffenen (…) mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schießen.“
Kermani fasst diese Spannung etwa, um hier nur eines von zahlreichen impliziten und einigen ganz explizit gemachten Beispielen zu nennen, in der Betrachtung einer Pièta:
„Vielleicht ergeht es ihm anders, aber in mir stieg während der Stunde, die ich ziemlich allein in St. Kunibert auf der Kirchenbank … saß, nach und nach der Gedanke auf, dass die „Frömmigkeit“, wie der wörtliche Sinn von Pièta lautet, das Vertrauen auf Gott eher erschüttern als bestärken müsse. Jesus am Kreuz wirft Fragen genug auf, aber er lädt nicht in dem Sinne zur Identifikation ein, dass wir uns vorstellen würden, selbst am Kreuz zu sterben (…)“
Die schöne Freiheit, über Ästhetik zu grübeln
Letztendlich allerdings ist weder die inhärente Selbstkritik der Religion, der Kermani in Ungläubiges Staunen Mal um Mal Raum gibt, entscheidend, noch dass breit besprochene Schicksal des Pater Paolo, das wie ein Splitter im von Kelek monierten „Ästhetizismus“ Kermanis steckt. Viel entscheidender: Ist eine ästhetizistische (eigentlich einfach: emphatisch-kunstkritische) Betrachtung religiöser Kunstwerke denn verwerflich? Kennen wir nur noch Freund-Feind-Denken? Viele Kritiker Kermanis, die sich etwa in den Kommentaren unter der Rezension von Ungläubiges Staunen in der Zeit echauffierten, dass ein „Muslim“ sich überhaupt wage, über das Christentum zu schreiben (geschweige denn, dass er das mit so viel mehr künstlerischem und theologischem Sachverstand tut, als dies selbst regelmäßige Kirchgänger heute zu tun fähig wären), scheinen gerade so zu denken. Aber Kelek auch?
Richtig, Kermani schreibt in Ungläubiges Staunen in erster Linie über Kunst, über religiöse Kunst noch dazu. Damit allerdings ist er genauso wenig „im klassischen Sinne reaktionär“ wie Umberto Eco, der mit seiner konzentrierten Schrift über „Kunst und Schönheit im Mittelalter“ kluge Einblicke in die voraufklärerische Ästhetik gibt, ohne dass man auf die Idee käme, ihm Apologie des Absolutismus vorzuwerfen.
„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, so Schiller – „Die Kunst ist in der Sphäre der menschlichen Kultur das ins Überzeitliche verlängerte freie Spiel des Geistes“, möchte ich hinzufügen.
Der Staatsdichter und die Staatsdichtermacher
Dass wir uns heute, wie allerhöchstens noch in den kurzen zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts dieser Freiheit hingeben können, ist eine zu große Errungenschaft, als dass man sie Lagerdenken geopfert sehen wollte. Zumal es lohnt, Kermanis Betrachtungen nachzugehen, man kann dabei einiges lernen.
Zuletzt: Kelek hat absolut Recht, wenn sie darauf hinweist, dass Kermani derzeit vom literarischen Establishment für die Rolle eines alternativen „Staatsdichters“ aufgebaut wird. Was, wie überhaupt alles, was einen Autoren auch nur in die Nähe eines Günter Grass rücken könnte, natürlich abscheulich ist. Doch wäre hier nicht erst einmal die Rezeption in den Fokus der Kritik zu rücken und der Autor höchstens so weit, wie er sich gegen die angetragene Rolle nicht wehrt?
Man bedenke auch: Gegen nichts wehrt es sich schwerer, als gegen eine Umarmung. Gerade als Schriftsteller. Vor dem großen Durchbruch werden wir selten umarmt.
Lesen Sie hier die Kolumne von Necla Kelek – Der Staatsdichter
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