Ich vergess‘ Dich nicht.

Über Demenz zu sprechen oder zu schreiben ist nicht einfach. Denn sie nimmt uns die Menschen, die wir lieben, und legt sich wie Nebel über die Erinnerung.


Mehrere Semester Vollzeitstudium im Studiengang Soziale Arbeit an einer der renomminiertesten Hochschulen für soziale Berufe lagen hinter mir, als ich mich entschied, nach Israel zu gehen und meine Feldstudie in einem Pflegeheim für Überlebende der Shoa durchzuführen.

Vollzeitstudium, fünf Tage die Woche, Seminare in allen möglichen Bereichen, praktische Übungen dazu, Gespräche zu führen, zu beraten, Zugänge zu Menschen zu finden und Beziehungen aufzubauen.

Als die Vorlesungssäle plötzlich 4000 km entfernt waren

Das Studium gab mir das Gefühl, vorbereitet zu sein. Dass Methoden und Konzepte, wie Beratungsgespräche ablaufen, im Arbeitsalltag niemals Eins zu Eins übernommen werden können, wurde uns oft genug beruhigend gesagt und ich fühlte mich gerüstet. Das, was wir uns bildlich als Werkzeugkoffer vorstellten, hatte ich sicher verpackt und mit in meinen neuen Alltag in Israel genommen, die Frage nach Nähe und Distanz zwischen mir als Professioneller und meinen Klient*innen stellte sich immer wieder und ließ mich in meiner Profession spürbar wachsen.

Doch nun, auf mich allein gestellt, fern von Seminarräumen und Vorlesungssälen, geht es plötzlich nicht mehr darum, wie man Beziehungen aufbaut. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, was passiert, wenn man keine Beziehung aufbauen kann, wenn man keine Grundlage schaffen kann, weil man jeden Tag aufs Neue anfangen muss.

Über Demenz zu schreiben

“Hallo, wer bist Du denn?”, begrüßt mich die Frau, mit der ich jeden Morgen eine Stunde verbringe. Ich erkläre es ihr, wie jeden Tag. Meine Sätze klingen auswendig gelernt, manchmal nerve ich mich selbst damit. Doch sie schaut mich ehrlich interessiert an, denn für sie klingt meine Erklärung nicht auswendig gelernt, es ist etwas völlig neues für sie.

Es ist nicht leicht, über Demenz zu sprechen oder zu schreiben. Demenz ist schambehaftet, sie ist anstrengend und ermüdend und kaum in Worte zu fassen. Und egal, wie viele Werkzeuge ich als professionelle Sozialarbeiterin mit auf den Weg bekommen habe, es gibt keinen Weg, der an ihrer Demenz vorbeiführt, wir lernen uns jeden Tag aufs Neue kennen.

Die Demenz hat sich wie eine Nebelschwaden über ihr Kurzzeitgedächtnis gelegt, manchmal ziehen die Schwaden weiter und geben ihr Momente mit klarer Sicht, doch meist bleiben sie, umhüllen sie und lassen sie nach 20 Sekunden die gleiche Frage erneut stellen.

Die Erinnerung in Dauerschleife

Und obwohl ich mich jeden Tag aufs Neue vorstelle, meine Arbeit erkläre und ihr förmlich die Hand gebe, scheint sich ein gewisses Vertrauen zu entwickeln. Sie entspannt sich in meiner Gegenwart und erzählt. Und auch wenn sie nicht weiß, was sie vor fünf Minuten gemacht hat, so ist die Erinnerung klar. Stundenlang kann sie aus ihrer Kindheit erzählen, von der Zeit vor 1933, bevor es eng wurde und sie sich verstecken musste. Als sie noch zur Schule ging und sich zum Seilspringen mit Freundinnen treffen konnte. Doch dann kommen die Trigger. Es kommen die Momente, in denen sie sich an etwas erinnert, etwas, das sie bis an ihr Lebensende traumatisiert hat. Ein Wort fällt, eine Erinnerung kommt hoch und sie beginnt, von den Nazis zu erzählen. Wie sie durch die Straßen zogen. Wie sie ihren Vater holten, ihre Mutter schlugen. Was sie sangen, wenn sie durch die Straßen zogen und wie sie, hinter dem Vorhang versteckt, als kleines Kind den Fackelmarsch beobachtete und nicht wusste, was das zu bedeuten hatte.

Sie erlebt ihr Trauma in Dauerschleife. Manche Erinnerungen erzählt sie in Gesprächen fünf Mal, manchmal zehn oder zwanzig Mal. Sie erzählt es, holt Luft und erzählt es noch einmal. Und immer wieder ist da dieser Schmerz in ihren Augen, wenn sie daran zurückdenkt. Denn was niemals gehen wird, ist das Leid. Das Leid, das ihr zugefügt wurde.

Demenz und das Tabu

Demenz ist schmerzhaft für Angehörige und nahestehende Personen. Man sieht eine Person verschwinden, die vor einer*m sitzt, man sieht die Unschuld in ihren Augen, wenn sie die gleiche Sache zum dritten Mal mit der gleichen Begeisterung erzählt und muss sich zwingen, durchzuatmen.

Mir selbst tut es weh, diese Zeilen zu schreiben und darüber nachzudenken, was ich empfinde, wenn ich mit dieser Frau spreche. Ich habe Angst, es auszusprechen, wie genervt ich manchmal bin und wie sehr ich mich zwingen muss, ruhig zu bleiben. Denn es ist anstrengend, alle zwei Minuten das gleiche Gespräch zu führen, die Ungeduld zu überwinden und wieder ruhig die gleiche Antwort zu geben und zu wissen, dass darauf wieder das gleiche folgt, wie auch schon zwei Minuten früher.

Ich spüre, wie es anfängt im ganzen Körper zu kribbeln, wenn sie immer an der gleichen Stelle der Geschichte nach einem Wort sucht, die gleiche Kopfbewegung beim Nachdenken macht und schließlich immer wieder auf die gleiche fragende Weise das gefundene Wort sagt. Ich muss mich zurückhalten, ihr das Wort nicht vorzusagen, nachdem ich es immerhin schon sieben oder acht Mal in dieser Stunde gehört habe.

Auf sich selbst Acht geben

Ich schäme mich für diese Gefühle, für meine Ungeduld und dass ich manchmal durchatmen muss, um nicht mit Etwas herauszuplatzen. Und obwohl ich sehe, wie gut ihr unsere Treffen tun, habe ich Angst. Angst davor, dass sich ihr Trauma auf mich überträgt, dass ich etwas davon trage von den Geschichten, die sie mir erzählt.

Aber dann kommen die schönen Momente. Dann erinnere ich mich an den Tag in der letzten Woche, als sie mitten am Tag aufgeregt zu mir kam und sagte: “Mensch, ich habe Sie überall gesucht! Wie war Ihr Wochenend-Ausflug?”.

Diese Momente sind die Ausnahme. Aber wahrscheinlich sind sie das, woran man sich festhalten muss. Die Momente, in denen sich der Nebel lichtet und in denen die Sonne durch die Wolken kommt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert