Onlinekommentare: Die Trolle von der Qualitätssicherung
Kritische Kommentare zu Artikeln werden online schnell als „getrolle“ abgetan. Sicher gibt es solche Trolle. Nicht selten tragen kluge Kommentare aber auch ihren Teil zur Qualitätssicherung bei.
Asteroiden befinden sich auf „Kollisionskurs“ mit der Erde, Efeu kann unter keinen Umständen ein Hochhaus begrünen. Die Sonde Cassini war einem Presseartikel aus dem vergangenen Jahr (mittlerweile stillschweigend korrigiert) zufolge „mehrere Lichtjahre“ zum Saturn unterwegs. Und geht es nach Mathematik Blogger Christian Hesse von der Zeit, so hat Isaak Newton im Gegensatz zu Goethe seine Farbenlehre „mathematisch bewiesen“. All das sind Beispiele teils offensichtlich falscher, teils zumindest irreführende Aussagen, die in dieser Form in großen deutschen Qualitätsmedien gemacht wurden. Ich habe mich mit der Auswahl auf politisch unverfängliche Themen beschränkt, um von Anfang an klarzumachen – es geht hier nicht um diskutable Meinungen, sondern um die Aufbereitung von Fakten. All das sind vor allem auch Beispiele von Fehlern oder Unaufmerksamkeiten, die relativ rasch, sehr gründlich und mit großem Sachverstand durch Onlinekommentare oder kritische Blogger korrigiert wurden.
Ukraine-Krise und geschlossene Kommentarspalten
Seit einigen Jahren weht dem Onlinekommentar als Digitalem Nachfolger des Leserbriefs ein eisiger Wind entgegen. Die Ukraine-Krise hat den Ton noch einmal verschärft, einige Zeitungen, etwa die Süddeutsche, haben seitdem ihre Kommentarspalten ganz geschlossen. Die abfällige Bezeichnung „Troll“ hat schon länger ihren Weg aus Internetforen in den alltäglichen Diskurs gefunden. Bezeichnete sie ursprünglich eine Person „welche Kommunikation im Internet fortwährend und auf destruktive Weise behindert“, so macht sich längst jeder, der allzu offenkundig eine abweichende Perspektive zu einem Thema äußert trollverdächtig. Ist es denn etwa kein Getrolle, einen Mathematikprofessor vorzuhalten, dass
„Niemand … etwas physikalisches mathematisch beweisen [kann], da die Geltungsbereiche der Physik und Mathematik sich nicht überschneiden“?
Gewiss, es gibt heute zu beinahe jedem Artikel online niveaulose, aggressive, schwer erträgliche Kommentare. Doch auf der anderen Seite sind es oft genug die Kommentarbereiche, die überhaupt noch die Qualität eines Onlineangebotes auf das Niveau klassischer feuilletonistischer Debatten heben. Manche streitbare Feder früherer Tage wäre heute vielleicht eher ein gefürchteter und gemiedener Online-Troll als tatsächlich bei seriösen Medien beschäftigt.
Allein in Bereichen, in denen ich mich, sei es aus beruflichen Gründen, sei es als Steckenpferd, mehr als durchschnittlich bewandert zeige, etwa in Literatur und Geistesgeschichte, Astronomie und klassischer Musik, kommt mir selten ein längerer Artikel unter, in dem nicht zumindest ein grober inhaltlicher Schnitzer auffällt, der sich nicht als publikumswirksame Zuspitzung, nicht als bloß stilistisches Mittel erklären lässt. Und aus eigener Erfahrung verwundert mich das nicht. Wir alle wissen, wie leicht man, wenn man tief in einem Thema drin steckt, eigene Fehler überliest. Aus diesem Grund lassen wir andere unsere Texte Korrektur lesen. Aber immer öfter scheint es, die Qualitätssicherung wird den Kommentierenden überlassen.
Weniger Publikumsbeschimpfung, mehr Debatte!
Etablierte Medien hätten gute Gründe, ihrer „Community“ deutlich mehr Respekt entgegenzubringen, als das derzeit der Fall ist. Denn in Zeiten, in denen immer weniger Ressourcen fürs Lektorat und immer weniger Raum für gut recherchierte, verschiedene Seiten akribisch beleuchtende Artikel zu existieren scheint, ist die längst ein unverzichtbarer Bestandteil eines qualitativ hochwertigen Mediums geworden. Statt sich in Publikumsbeschimpfungen à la Peter Handke zu üben, sollten sich Medienschaffende stärker selbst in die Debatte einschalten. Ob und in welchem Ton sie das tun hat, wie die Zeit in einem ihrer lichten Momente im Umgang mit dem Thema herausarbeitet, große Auswirkungen auf den Verlauf der gesamten Debatte. Und auch die Art und Weise, wie ein Text verfasst ist, moderieren das Verhalten der Kommentierenden in einem gewissen Grad. Je schriller und einseitiger, desto heftiger wird im Kommentarbereich dagegen gebrüllt, je durchdachter und ausgewogener – was keineswegs heißt je beliebiger – desto geringer die Angriffsfläche für Trolle und Pöbler.
Auch auf Agora viel Müll
Die gibt es natürlich, aber nicht selten sind sie einfach die Kehrseite schriller Berichterstattung. Überhaupt: Ein Blogger – leider vergaß ich, wo genau ich den Vergleich las – verglich vor einiger Zeit die Debattenkultur in den sozialen Netzwerken mit der griechischen Agora: Auch dort sei nämlich neben klugen philosophischen Debatten unglaublich viel Unsinn geäußert worden. Nur existieren davon keine Aufzeichnungen. Ob die, übrigens oft auch in aggressiver Form keineswegs mehr anonym geäußerte, freie Meinung in eine Kultur des „wer schreit hat recht“ mündet und ob der Mensch als des Menschen Troll in seiner unbeschränkten Freiheit an der des je anderen erstickt, hängt sehr stark davon ab, inwieweit im Kommentarbereich ein Raum geschaffen wird, in dem jeder, auch die besonneneren Typen, bereit ist und vor allem Lust hat, sich einzubringen. Zur Anerkennung der Bedeutung des Online-Kommentares gehört also auch eine gewisse Moderation.
Nun mögen die Verlage aufschreien: All diese Mehrarbeit kann sich doch niemand leisten! Ich denke, angesichts des Geldes das offenkundig beim professionellen Lektorat eingespart wird, sollte das machbar sein. Vor allem, weil Journalisten bei der Lektüre des ein oder anderen klugen Kommentars sogar noch manche sonst teure Weiterbildung kostenlos mitnehmen können. Naja. Falls das überhaupt gewünscht ist.
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