Bewerbungen und andere verpasste Chancen II

Im zweiten Teil seines Essays zu Bewerbungsritualen widmet sich Daniel Rapoport dem „Sekretärinnenproblem“ und kritisiert das grassierende „Messfieber“:


Sekretärinnenprobleme

Lassen wir das trügerisch Allgemeine und wenden uns beschliessend und überleitungsweise noch einmal kurz dem Bewerbungsproblem zu. Es gab wohl Versuche (nichts soll beschönigt sein), dem Problem, trotz Lebenskomplexität und prinzipieller Aussichtslosigkeit, systematisch zu Leibe zu rücken. Eine der bekanntesten Behandlungen fand unter dem Namen „Sekretärinnenproblem“ statt: Darin wird eine (optimale) Strategie gesucht, um aus einer gegebenen Menge von Bewerbern („Sekretärinnen“), von denen einer nach dem andern begutachtet wird, den besten zu finden, ohne gleich alle ansehen zu müssen. Die Idee der optimalen Strategie lautet wie folgt: Erst verschaffe man sich durch eine Stichprobe Überblick über das allgemeine Leistungsniveau der Bewerber und dann nehme man den ersten Bewerber, der besser ist, als der beste Bewerber der Stichprobe. Unter den Nebenbedingungen, dass (1) Bewerber immer sofort nach dem Interview und wenn, dann engültig abgelehnt werden (i.e. nicht nach späterer Besinnung dennoch genommen werden können) und dass (2) die Anzahl der Bewerber feststeht, kann man zeigen, dass die optimale Stichprobengröße bei ≈37% der Bewerber liegt (1/e). Dann, so die streng mathematische Herleitung, wäre die Chance, mit dem nächsten besseren auch den optimalen Bewerbling abzugreifen, maximal.

Vermutlich bricht der Leser unterdessen schon bei der Wortbildung „optimaler Bewerbling“ in Lachen aus. Um Vergebung; ich habe mir das nicht ausgedacht; ich referiere es ja nur. Natürlich liegt der Fehler schon klaftertief in der Voraussetzung: Unter n Bewerbern, so will es die Aufgabe, gäbe es einen, der am geeignetsten wäre (bzw. man könne die Bewerber hinsichtlich ihrer Eignung in eine Reihenfolge bringen). Es ist der Zweck dieser Zeilen, genau diese Vorstellung fragwürdig zu machen.
Geben wir also, einander die Langeweile ausschweifender Wiederholungen zu ersparen, unsere bisherigen Einwände gegen die Einbildung einer objektiv vorhandenen Bewerber-Rangfolge in abgekürzter Form:

Erstens versagt uns die fundamentale Unbestimmtheit der Zukunft die genauen Eignungs- und Bewährungsumstände, unter denen der Bewerbling sich dann tatsächlich beweisen muss. Möglicherweise sind in wichtigen künftigen Situationen ganz andere Qualitäten erfordert, als die von uns für wesentlich gehaltenen (zum Beispiel Umsicht statt Erfindungsreichtum oder Beharrungsvermögen statt Teamfähigkeit etc.). Die selbe Unbestimmtheit der Zukunft kann (vielleicht wichtiger noch) bereithalten, dass ein Mensch gründlich aus seiner Bahn geworfen wird; was bislang an ihm war oder zu sein schien, kann umgeworfen, verschüttet, ins Gegenteil verkehrt werden. Es muss ihm dazu nichtmal etwas Einschneidendes oder gar Traumatisches widerfahren. Derlei Änderungen, Verkrustungen, Niedergänge können sich auch schleichend ereignen, und ein einst hochmotivierter, robuster und schaffensfroher Mitarbeiter kann (durchaus nicht selten) zu einem verzagten, mürrischen, kränklichen und manchmal sogar intriganten und verschlagenen Wesen sich wandeln. Man weisses nicht.

Zweitens, die Unmöglichkeit des Vergleiches mit den Alternativen. Das ist ein sehr viel stärkerer Einwand, als der erste (der für sich schon nicht von Pappe ist). Jetzt wird es prinzipiell. Denn jede Bestimmung läuft auf irgendeine Form der Vergleichbarkeit hinaus. Wo kein Vergleich, da keine Bestimmung. Das Meßbare kommt an seine Grenze, wo der Unterschied nicht feststellbar ist. Man müsste aber, um vergleichen zu können, zwei verschiedene Bewerber in zwei identischen Kopien eines Unternehmens einstellen. Und selbst im Fall wir eine solche Parallelwelt herstellen könnten, wäre nicht klar, wann (und wie) man bilanzieren soll? (Nach einem Jahr? nach zehn? beim Ausscheiden des Bewerblings aus dem Unternehmen? – letzteres wäre sicher die genaueste Bilanz, aber gleichzeitig erschwert sich das „Herausrechnen“ eines Einzelbeitrags zum Gesamtgeschehen mit der Zeit zusehends. Denn je länger (und unterschiedlicher) die Entwicklung der beiden hypothetischen Unternehmens-Kopien, desto weniger wird sich sagen lassen, was von den Unterschieden auf den Einfluß der eingestellten Person, und was auf die übrige Dynamik der Welt rückführbar sei.) Wenn aber ein Test unserer Hypothesen über die Eignung eines Kandidaten gar nicht möglich ist, dann sind unsere Hypothesen dazu verdammt, nie verifizier- und nie falsifizierbar zu sein. Alles, was wir uns im weiteren Verlauf als Verifikation oder Falsifikation zusammenklauben mögen, ist im Sinne einer wissenschaftlichen Überprüfung nichts wert; es ist nichts weiter, als die Selbstbestätigung eines Observer-Bias. Wie gesagt: Man kann — man soll — Reihenfolgen machen. Aber man soll nicht auch noch glauben, sie drückten mehr aus, als unser subjektives Hoffen. Mit „objektiven Reihenfolgen“ hat das wenig zu tun; ja, es wird, eingedenk dieser prinzipiellen Unmessbarkeit, die gesamte Rede von „objektiven Reihenfolgen“ zuschanden; sie wird ähnlich esoterisch (gleichwenn schillernd und verführerisch), wie die philosophische Rede vom „Ding an sich“ (zu dem aber leider niemand einen Zugang haben könne).

Drittens schliesslich komme ich an den wichtigsten und bislang nur implizit mitgeführten Einwand. Hier ist die Stelle, ihn explizit zu machen: Er handelt von der Unmöglichkeit, Qualität restlos in Quantität überführen zu können. Diese schädliche Vermischung der Kategorien liegt dem Problem als Kern überhaupt zugrunde. Man verlangt zu messen, wovon nicht einmal klar, ja wovon sogar höchst zweifelhaft ist, ob es in einem herkömmlichen Sinne messbar sei. Dieses unbändige, oft suchtartige Züge annehmende Verlangen nach Meßbarkeit und Rangfolgen nenne ich das Meßfieber und es soll den Gegenstand des zweiten Teils dieser Schutzschrift abgeben.

Meßfieber: Epidemiologie

Die Sache ist ernst. Am Meßfieber laboriert unterdessen das gesamte Abendland; und hat das Morgenland längst infiziert; und muß der Welt überhaupt die ungute Diagnose mitgeteilt werden, dass sie recht eigentlich in all ihren bekannten Teilen febrös ist; geschüttelt von der Phantasmagorie, jedweden Vorgang oder Gegenstand — und insbesondere aber Menschen! — messen und in Reihen – und Rangfolgen bringen zu können.
Die Diagnose ist nicht neu. Wer nun aber wittert, dass es in der Konsequenz gegen den Kapitalismus gehen würde, wird sich enttäuscht finden. Ich ziele tiefer (was sich keinesfalls die Physiognomie des Kapitalismus meint); ich ziele aufs allgemein Menschliche; ich ziele in letzter Konsequenz auf das Wesen des Menschen und der Arbeit.

Bevor wir aber dahin gelangen, wollen wir gern zugeben, dass natürlich was dran ist, an der Beobachtung, dass namentlich das Bürgertum die rangmacherische Meßwut in praktisch jeden Lebensbereich getragen hat; dass die Menschheit, wenn man so sagen kann, das Entrinnen aus kirchlicher Umnachtung mit der Verwandlung des Messweins in Messfieber bezahlt hat. — Natürlich hat das Meßfieber etwas mit Kapitalismus, Wettbewerb, Markt, Geldwirtschaft und so weiter zu tun. (Dass der Wahn, es könne — ja müsse! — alles messbar sein, vielen „sinnlosen Wettbewerben“ zugrunde liegt, findet sich angelegentlich, leicht profanisiert vielleicht, aber dafür in schönster schwyzer Mundart von Herrn Binswanger untersucht und ausgeführt.) Auch wenn die Kritik von sinnlosen Wettbewerben und übergriffigem Marktliberalismus, wie wir sehen werden, nicht den Kern der Sache trifft, soll also nicht von der Hand gewiesen sein, dass erst mit dem Bürgertume eine krasse Durchrationalisierung des Lebens Einzug hielt, die selbst vor ganz marktfernen oder seeleninnerlichen Bereichen weder Halt noch Scham kennt: Nicht vor der Kunst, nicht vor Medizin und Fürsorge pflegebedürftiger Menschen, nicht vor der Wissenschaft, nicht vor der Quantifizierung des Glücks, oder (wie wir schon zu besichtigen kurze Gelegenheit hatten), der Liebe.

Man verstehe mich recht. Ich kritisiere nicht (was man bei derlei Kritik ja kennt), dass man überhaupt die Forderung erhebt, auch derlei „müsse sich rechnen“; ich bestreite, sehr viel grundlegender, die Meßbarkeit selbst! Es gehört zu unseren tiefsten Irrtümern, dass wir (indem wir achten, dass „es sich rechnet“) die Qualität „messen“ würden, von der wir glauben, dass sie sich in den Zahlen (Gewinnspannen, Zeiten, Rankings etc.) niederschlüge. In Wirklichkeit messen wir etwas vollkommen anderes. Was das Gemessene bedeutet, ist oft gar nicht einfach zu sagen (vgl. allein die klassische Kontroverse um die Interpretation des Wertes einer Ware). Was das Gemessene nicht bedeutet lässt sich hingegen klar angeben: Keinesfalls misst es eine Qualität; nicht eines Bewerblings, nicht eines Kunstwerkes, nichts einer wissenschaftlichen Arbeit. Niemand hat je eine Qualität gemessen. Qualitäten sind ihrer Natur nach gar nicht messbar; dazu müssen sie immer erst in Quantitäten umgewandelt werden. Und diese Umwandlung geht, wie wir im Folgenden sehen werden, nie ohne Verlust vonstatten. Es wird letztlich das Verhältnis dieses Verlustes zum Gewinn sein, den wir versuchen abzuschätzen.

Vermessenheiten der
Vermessbarkeit: Ein paar Beispiele

Zuvörderst aber wollen wir kurz illustrieren, zu welcher Verrücktheit das Meßfieber unterdessen bereits erblüht ist; wie ganze Meßindustrien erschaffen wurden, um sich der Vermessenheit der Vermessbarkeit hinzugeben. Ich zähle das wirklich nur kursorisch her und bin mir ganz im Klaren, dass jedes einzelne Beispiel Stoff für unendlichen Disput bereit hält: Es geht nun aber genau nicht um die Einzelheiten dieser Dispute (die durchaus ihre Berechtigung und ihren Reiz haben könnten). Ich bitte den Leser sehr, den übergeordneten Aspekt aller Beispiele zusammengenommen in Rücksicht zu nehmen; jenen, dessen Darstellung mir angelegen ist, den nämlich der (Un)Meßbarkeit von Qualitäten.

Ein gutes erstes Beispiel geben vielleicht die allbeliebten Hitparaden bzw „Charts“ ab (früher durch die Firma „Media Control“ durchgeführte Erhebungen, welche Tonträger sich am besten verkaufen würden). Sie drücken, zumindest in der Art, wie sie das Reden über und den Umgang mit Musik bestimmen, die Qualität eines Musikstücks als Verkaufsrang aus. Dann wieder kenne ich niemanden, der ernsthaft auch nur an eine lose Korrelation von Musikqualität und Verkaufsrang glaubt; von Zusammenhang oder Kausalität ganz zu schweigen. Oder glaubt irgendwer ernsthaft daran? Lässt sich, verschärft nachgefragt, wahrhaftig daran glauben, dass sich die Qualität eines Musikstückes (allgemein: eines Kunstwerkes) überhaupt irgend messen lässt? Verhält es sich nicht vielmehr so, dass zuerst und zuwichtigst die Musik einmal für sich spricht; und zunächst (sehr viel weniger aussagekräftig) — im Gespräch, in einer Kritik etc. — mehr oder minder nachvollziehbare Gründe für das Wertschätzen eines Musikstückes gewiesen werden können? Und wäre das nicht schon alles was an Musik „messbar“ ist? Ich meine, jeder darüber hinaus gehende Anspruch ist Kokolores; mehr kann an Musik — an Kunst allgemein — gar nicht „gemessen“ werden (einen vertiefenden Betracht der Kunst, über Kunst zu urteilen findet der Interessierte hier.) . Dennoch mißverstehen Künstler, Publikum und Musikindustrie gleichermassen den Verkaufsrang als Anzeiger von irgendwas; und meist hat es auf verquaste Weise doch mit der Qualität der Musik oder des Künstlers zu tun. Der Leser mag selbst in sich hinein horchen, wie schwer es ihm fällt, sich vom Bestand der Beziehung Verkaufsrang-Künstlerqualität zu lösen. (Merke: Je lieber das Vorurteil, desto schauriger seine Konsequenz.)

An die Unsinnigkeit der Hitparaden (nicht im Sinne des Geschäftmachens; nichtmal im Sinne der Verbreitung guter Künstler; aber doch im Sinne einer Abbildung ihrer Qualität) — an diese Unsinnigkeit knüpft eng die Unsitte der Ehrenpreise, Auszeichnungen und Pokale. Preise gibt es ja im Musikbusiness, wie auch im Schauspiel und anderen Bereichen der Kunst; Preise gibt es ausserdem in der Wissenschaft; im caritativen Bereich: Und, wenn man drüber nachdenkt, überhaupt in allen Bereichen, in denen sich keine „natürliche“ Wertigkeit herstellt (etwa eine, die über den Marktwert sich anzeigen könne). Wo kein Preis existiert, wird einer geschaffen. Es ist kein Zufall, dass beides Preis geheissen wird, sowohl der Marktwert einer Ware, als auch Kunst- oder Wissenschafts- oder sonstige Auszeichnungen. Preise werden immer dort verliehen, wo Markt und Politik endigen; wo das Subjektive objektiviert werden soll; wo das Unmessbare (wenn nicht sogar: Unsagbare) Würdigung erfahren soll; wo der Urteilsdrang sich zu einer Macht aufwirft; kurz, wo eigentlich unpolitisierbare Bereiche für irgendeinen Zweck politisiert werden sollen.

Ich gebe sofort zu, dass dieser Zweck oft die beste Absicht ist. Wie viele Preise heißen nicht „Förderpreis“? Natürlich verstehe ich den Drang, der Begeisterung oder Bewunderung für eine Leistung Ausdruck zu verleihen. Aber doch nicht so! Denn, wiewohl der Einzelne (Künstler, Wissenschaftler, Wohltäter, Organisation) von Preisen durchaus profitieren kann und wiewohl er ihm oft ganz zu Recht verliehen wird, ist der Preise tatsächliche Wirkung nur das Schaffen unsinniger Wettberbe und Eifersüchte; die Förderung von Scheelsucht, Kabale und Haß; die Herrschaft der Willkür von Vergabegremien und Mäzenen; und letztlich das Stiften von Unruhe in Bereichen, die ihrem Wesen nach eigentlich die Ruhe- und Selbstfindungsbereiche der Menschheit sind. Und — worauf hinzuweisen sich diese Zeilen natürlich zum Auftrag gemacht haben — es wirken Preise auf ungute Weise an der Schaffung und am Fortwirken der Illusion mit, es würde eben doch eine Meßbarkeit in diesen Bereichen wohnen. Wohnt sie nicht! Dort hausen nur Kommitees, Preisrichter, Liebhaber, Stiftungskuratorien und so fort, die ihre zum hohlen Brauch verkommenden Würdigungen — und letztlich nur ihren Eigennutz exekutieren. Politik, mit anderen Worten. (Merke: Der Ehrenpreis ist der untrügliche Anzeiger des Unmeßbaren.)

Und so geht es munter fort. In der Wissenschaft (meinem eigenen Bereich) wurden komplizierte Indikatoren eingeführt, um die Qualität von Wissenschaftlern objektivieren zu können. Kein Scherz! Es mag unwirklich klingen, aber es stimmt. Googlen sie mal „citation index“ oder „Hirsch factor“. Angelegentlich spielen diese Metriken natürlich eine Rolle auf dem Arbeitsmarkt; es entblöden sich Universitätspersonaler und Berufungskomissionen (die selber Wissenschaftler sind!) nicht, Wert und Qualität eines Wissenschaftlers in ein oder zwei Zahlen abzubilden; nichtmal der vier Kopfnoten will man noch benötigen. Die es eigentlich am besten wissen müssten; deren Beruf nachgerade ist, zu entscheiden, was messbar ist und was nicht, fallen auf einen derartigen Blödsinn herein und es kostet mich jedes mal viele Stunden ermüdendster Debatten, um die Fragwürdigkeit dieser Praxis auch nur ein bisschen einsichtig zu machen. Nicht, dass es irgend etwas ändern würde. Sie verstehen die Argumente wohl; sie mögen ihnen sogar beifallen; aber sie kehren an ihren Platz zurück und fahren dort fort, als wäre nichts geschehen und als wüssten sie es nicht besser.

Gleiches gilt für die Vergabe von Geldern für Forschungsvorhaben: Auch hier ist die unbelehrbare Einbildung am Werke, man könne objektiv die Qualität der Vorhaben einschätzen und in eine Rangfolge bringen. Da werden buchdicke Anträge verfasst; die dann fast ebenso umfangreiche Gutachten erfordern; da gibt es Projektträger, Innovationsagenturen, die aus dem Antragswesen ein Geschäft machen und so fort. Was da an Zeit, an Geld, an Aufwand, an Lust und Frust verschleudert wird, das malt sich keiner aus, der es nicht erlebt hat. Und niemand, kein einziger, der in diesem Betrieb mitmacht, hat mir je zugegeben, dass es ein hoffnungsloses, sinnloses Unterfangen wäre! Irgendwie, heißt es dann, müsse man eben urteilen, die Spreu vom Weizen trennen etc.; Sie kennen diese Rechtfertigungslyrik ja bereits vom Bewerbungsproblem. — Im Übrigen findet sich denn auch folgerichtig der selbe fahle Beamtensprech, die selbe bewerbungsdeutsche Pestilenz in den Forschungsanträgen: Was da an klanghässlichen und windmacherischen Vokabeln verschleudert wird (wir Wissenschaftler nennen das Antragschreiben auch liebevoll „Buzzwordbingo“); was da an Innovations- und Zukunftsdeutsch aus den Absätzen schwallert und saftet, das muss selbst sprachpraktische Wiederkäuer und Saumägen zum Kotzen bringen! — Davon, dass sich das Antragsunwesen selbstredend als der Nonsense entpuppt, der er ist, sobald man einmal, nunja, nur halbwegs wissenschaftlich auf die Sache schaut, davon muss ich wohl nicht groß Erwähnung tun. Sie werden es geahnt haben. (Merke: Für die Grundlagenforschung sind Förderanträge der Tod. Sie haben allenfalls eine Berechtigung in der angewandten Forschung, bei der es ja dann tatsächlich auch anhebt, um Quantität zu gehen.)

So liesse sich fortfahren, Seiten mit Beispielen für das queckenhafte Wuchern der Meßindustrie zu füllen, um das Ausmass der Fieberbrunst zu verdeutlichen; mit Absätzen über Rating-Agenturen etwa; oder über „Impact Faktoren“; über Schulnoten natürlich; selbst über die Werbeindustrie wäre, nimmt man es streng, ein diesbezügliches Wörtchen zu verlieren — aber das schüttete an sich nur Bekanntes zu Bekanntem; und gern wollen wir an dieser Stelle schon von der Beschreibung zur Erklärung abkürzen. Denn eigentlich können wir unsere Hauptfragen bereits aus den gebrachten Fällen destillieren: Welches nämlich der Unterschied zwischen Qualität und Quantität sei?; durch welcherlei Operationen man diese in jene umwandle?; warum wir in der Meinung sein müssen, dass dabei ein wesentlicher Verlust statt hätte?; und welcher Art und Größe schliesslich besagter Verlust sei?

Modulo (Qualität zu Quantität): Der Rest

Setzen wir noch einmal beim Bekannten an; bei dem Vorwurf, der Kapitalismus objektiviere, entwerte, verheize den Menschen; beginnen wir nocheinmal mit der Moderne. Die Moderne (ganz unabhängig einmal von den herrschenden Machtverhältnissen) ist vielleicht ideengeschichtlich in eben dem flächenbrandigen, fulminaten Ausbruch einer Brunst des Meßfiebers am ehesten auf ihren Begriff gebracht.

Nicht von Ohngefähr wird ihr Beginn gemeinhin mit der Erfindung der „klassischen Physik“ durch Galilei und Newton identifiziert; nicht von Ohngefähr beginnt sie mit dem berühmten Ausspruch Galileis, es sei das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik abgefasst. Es war ja der Rausch eines ungeheuren Umsturzes: Die Natur, auf Jahrtausende intimste Feindin des Menschen, drohend und nährend zugleich, wurde nun dem Menschen dienstbar; endlich musste er nicht mehr stumpfe Verrichtungen an ihr vornehmen, sondern konnte sich in die weit edlere Unternehmung stürzen, lediglich noch ihre Kräfte in eigens vorberechnete (!) Bahnen zu lenken (Öfen, Kolben, Schaufelräder, Dampfmaschinen). Welch ein Triumph! Die große, unermeßlich mächtige Natur, deren grausame Launenhaftigkeit seit jeher dräute und geißelte (als Krankheit, Missernte, Elementgewalt, als hartleibige und widerwillige Ernährerin) — nun wurde sie enträtselt und in Formeln gepreßt; aus Wildnis wurden Gärten; aus Frohn Lust; und Jahr für Jahr (man konnte förmlich zusehen) trotzte ihr die Menschheit ein weiteres Quant Sicherheit und Vorhersagbarkeit ab.

Mein Freund Peter Beurton, Philosoph, Frohgemut und Hebamme dieser Gedanken, pflegt den Beginn der Moderne so auszudrücken: Es sei „der Umschlag von bewegten Substanzen zur substantiellen Bewegung“ gewesen — und in diesem Wort schon scheint die Inthronisierung des Meßbaren auf. Vom Hauptwort der „Substanz“ (die ja etwas Erfahrbares ist) geht die Verwandlung zur „Bewegung“ (die etwas Meßbares ist).

(Daß natürlich die Natur nie beherrscht werden kann; dass der Mensch ihr unverlierbar angehört (und sie ihm); dass die Natur diesen Allmachtsphantasien immer wieder durch kleine und große Katastrophen ein deutlich vernehmbares „Kusch Dich!“ entgegen schleudern wird; dass die Natur auch im Innern des Menschen selbst ungezähmt und unberechenbar wie eh fortwütet; dass kurz, dem Ganzen ein selbstvergessener Überschwang eignet, sei meinethalben eingeräumt. Es spielt für den Gedanken, den wir ferner entwickeln wollen, eine mindere Rolle.)

Die Rede vom Umschlag „Substanz“ zu „Bewegung“ bringt uns auf die rechte Fährte: Auch wenn dieser Umschlag mit der Moderne (und dem sie begeleitenden Menschentypus des „Bürgers“) dramatisch befördert wurde, hatte er doch schon vordem statt. Im Grunde war schon immer der Fall, dass der Mensch Substanz in Bewegung verwandelt hat; dass er die Natur, die ihrem Wesen nach „das Unverfügbare“ ist, in etwas Verfügbares verwandelt hat. Die Verwandlung des Unverfügbaren in Verfügbares nun macht die Essenz des Unterschiedes zwischen Qualität und Quantität.
Oder doch zumindest eine Möglichkeit, diesen Unterschied aufzufassen. Denn es gibt, wie bei jedem philosophischen Begriff (bzw. Begriffspaar) so auch bei diesem mehrere Möglichkeiten der Annäherung und Explikation. Wir wollen zwei Deutungsweisen wählen: Eine analytische und eine pragmatische; eine die sich aus der Intention der Begriffe und eine, die sich aus dem praktischen Tätigsein ergibt; und werden ferner finden, dass ein Zusammenhang zwischen beiden Bedeutungen besteht.

Die analytische Deutung ist schnell erzählt: Qualität sei jenes Spezifikum, jene nennbare Eigenart, die ein Ding von anderen unterscheidet; sie sei als nie verschwindender, irreduzibler Unterschied verstanden, der eine Sache von anderen trennt und sie dadurch überhaupt erst weisbar macht. In gerade die andere Richtung zielt nun die Quantität: Sie nimmt, was gleichartig an den Dingen erscheint, um sie einander zuschlagen zu können. (Nicht deckungsgleich, aber immerhin in die selben zwei Richtungen weisend, ist die philosophische Unterscheidung von Intension und Extension eines Begriffes; erstere hat mit seinen Qualitäten, letztere mit seinen Quantitäten zu tun.) Das mag alles sträflich verkürzt und unvollständig sein, aber den Gedanken zeigt es, unseres Dafürhaltens, hinreichend an: Qualität verweist auf die Möglichkeit des Unterschiedmachens; Quantität auf die Möglichkeit des Gleichartigmachens.

Beides, das Unterschied-, wie auch das Gleichartigmachen, müssen wir aber auch als (geistige) Operation verstehen. Worüber wir zum pragmatischen Verständnis von Qualität und Quantität geleitet sind: Die Fähigkeit zur Gleichartigmachung fällt wesentlich ineins mit der Fähigkeit zur Verfügbarmachung. Auch wenn es zunächst nur als eine Operation des Verstandes erscheint, das Vielfältige zu einer Einheit zusammenzuziehen, nimmt sie das Entscheidende der tatsächlichen Praxis schon vorweg. Dieses Wesentliche besteht nämlich im Ignorieren der Eigenarten, im Absehen von den Unterschieden, kurz, im Vereinheitlichen — zu eben dem Zweck, eine Tätigkeit am Qualitativen ausüben zu können; um es in das Substrat einer Tätigkeit zu verwandeln. Das können einfache Tätigkeiten wie das Abzählen (auch im Geiste) sein, oder komplexe Tätigkeiten wie das Fördern von Öl oder Erz, oder deren Umwandlung in Kunststoffe oder Mikroelektronik. Stets erfordert eine Tätigkeit, dass, was man ihr zuführt oder unterwirft, auf einheitliche Weise durch sie erfasst und beeinflusst werde — und dies ist genau der Prozess, bei dem Qualität in Quantität verwandelt wird!
Dem Meßfieber also, um mit unseren überfeinerten Begriffen neu anzusetzen, liegt eine grundlegende praktische Operation zugrunde; die nämlich der Aneignung (Verfügbarmachung). — Aha! Da wähnen sich zumindest Marxist & Hegelianer endlich auf sicherem Grunde! — Damit soll auch gesagt sein, dass „Aneignung“ an sich nichts Verdammenswürdiges ist; die Umwandlung von Qualität in Quantität ist schon dem Tier notwendig; und wieviel notwendiger erst dem Menschen! Kritikwürdig ist indes ihre Übertreibung, ihre Verabsolutierung und vor allem die Naïvität, sie käme ohne Kosten daher.
Die Koste! Reden wir über die Kosten. Wir wollten ja wissen, was angelegentlich des Vollzuges der Aneignung eigentlich verloren ginge: Ganz einfach, die Qualität! Wir müssen, was die Qualität ausmacht (die Unterschiede), zu einem gewissen Grade unterschlagen, wenn wir sie in eine Quantität verwandeln (i.e. verfügbar machen; aneignen). Oft fällt der Verlust gar nicht weiter ins Gewicht, oder wird durch die Vorteile der Verfügbarmachung bei Weitem aufgewogen. Manchmal kann der Gewinn der Aneigung den Verlust der Qualität jedoch nicht mehr begleichen. Dann zerstören wir in der Aneignung genau dasjene, dessen wir eigentlich habhaft werden wollten. Dann übertreiben wir es mit der Aneignung; dann sollte wir innehalten. Stattdessen aber, so wir des Rufes nach Innehalten nicht gewahr werden, wirken wir wie im Fieber fort, sinnlos betriebsam, unverständig, verlassen vielleicht nicht von allen, aber mit Sicherheit von den meisten der guten Geister.

Den Löwenanteil aller Aneignung vollzieht der Mensch durch Arbeit. Indem er arbeitet, richtet der Mensch die Natur zu und sich in ihr ein; unterwirft er sie seinen Zwecken und formt sie in Gegenstände, Stoff- und Energieströme zu seinem Nutzen und nach seinem Belieben um; erzeugt er eine Art ökologischer Nische (die Zivilisation), die (mit Hutchinson gesprochen) gleichzeitig seine Selbstrealisierung ist; eignet er sich also nicht nur die ihm äussere, sondern auch seine innere Natur an. — Und da sind wir, auf gelehrsame Weise vielleicht, aber doch eigentlich recht stracks wieder auf das Bewerbungsproblem zurück gekommen; auf die philosophische Ursache nämlich der entmenschten, trostlosen Sprache von Bewerbungsschreiben, des ihr zugrunde liegenden Geheimnisses: Dass einer sich (seine Natur, das eigentlich Unverfügbare an einem Menschen!) der Aneignung preis gibt, dass er seine Qualität als ein Messbares formulieren will; dass er sich von einem Subjekt in ein Objekt zu verwandeln trachtet — all das geschieht in dem einfachen Prozess der Arbeit (die immer Arbeitsteilung ist; es gibt keine ungeteilte Arbeit), genauer, des Einspeisens der Person als Arbeitskraft — als Bewerbling — in den Arbeitsprozess, der gleichzeitig der Prozess seiner Objektwerdung und seiner Quantifizierung ist. Um den Preis, offensichtlich, sich selbst zu verleugnen und letztlich zu verlieren. Um den Preis, will mir scheinen, des Wesentlichen; dessen nämlich, was ihn, den Menschen, ausmacht. In der Arbeit, kann man sagen, findet und verliert sich der Mensch zugleich; erschafft er und zerstört er sich; findet er auch und verliert er seine Würde. Denn was beträfe diese Würde intimer, als seine Qualität, die, wir entsinnunen uns, das Spezifikum ist, das jeden einzelnen Menschen auszeichnet und ihn unterscheidbar und weisbar macht?

Es hat, will ich noch einmal betonen, weniger mit dem Kapitalismus als mit der Arbeit überhaupt zu tun. Wenn richtig ist, dass der Mensch das werkzeugmachende Tier ist; und das Werkzeug seinerseits nichts anderes bezeichnet, als das spezifisch Menschliche der Tätigkeit, die wir Arbeit nennen; wenn also der Mensch sein Menschsein durch (werkzeugvermittelte) Arbeit realisiert, dann liegt das Problem der Verfügbarmachung seiner inneren Natur (=Umwandlung von Qualität in Quantität) in eben diesem Prozess des Menschseins selbst; dann sind das Bewerbungsproblem im speziellen, wie auch das Meßfieber im allgemeinen, Symptome seines Menschseins.

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Daniel Rapoport

Daniel H. Rapoport, geb. 1971, studierte Chemie an der TU Berlin und arbeitet seitdem als Wissenschaftler an Technologien zur Analyse und Vermehrung menschlicher und tierischer Zellen. Neben wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht D.H. Rapoport Essays und Glossen zu Politik, Philosophie und Kunst.

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