Der Messias von Westeros

Am Sonntag startet die sechste Staffel von „Game of Thrones“. Dann erhalten die Fans eine Antwort auf die Frage, ob Serienheld Jon Snow noch lebt oder wenigstens eine anständige Wiederauferstehung hinbekommt. Dabei wird eine andere Figur für den Fortgang immer wichtiger.


Es gibt Leute, die sich dafür interessieren, ob Hillary Clinton oder Bernie Sanders, Donald Trump oder Ted Cruz um den Einzug ins Weiße Haus kämpfen. Und es mag welche geben, die immer noch wissen wollen, ob der für 2012 avisierte Flughafen der deutschen Hauptstadt irgendwann in mittelferner Zukunft seiner Bestimmung übergeben wird. Für die meisten Menschen auf dieser Erde indes hat an diesem Wochenende eine andere Frage Priorität: Lebt Jon Snow?

Für alle, die weder Fans der Serie „Game of Thrones“ (GoT) sind, noch die Buchreihe „Das Lied von Feuer und Eis“ kennen, mag der Hype unvorstellbar sein. Echte „GoT“-Anhänger indes beschäftigt seit vergangenem Sommer kaum etwas so sehr, wie die Zukunft dieser Hauptfigur. Glaubte man Snow doch dazu berufen, einer ganzen Phantasiewelt die Erlösung von Krieg, Kabale und Intrigen zu bringen. Und so einer soll die Szenerie für immer verlassen? Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, hofft ein Großteil der „GoT“-Gemeinde, dass ihr Liebling von den Toten aufersteht. Allerdings nicht nach der Schrift. Denn die Romanvorlage ist bereits zu einem vorläufigen Ende gekommen. Was sich Autor George R. R. Martin nun für die Serie ausdenkt, ist in der Tat Neuland.

Warten auf die Auferstehung

Snow als Christus von Westeros, auferstanden von den Toten: Eine Nummer kleiner, so kann man denken, macht es Martin nicht. Die meisten Morde, die meiste Gewalt, die finstersten Schurken. Wer sich so um Superlative müht, braucht fürs Schlusskapitel einen echten Knalleffekt. Und was käme besser, als ein Messias. Um so einer zu werden, bräuchte Snow schon eine Auferstehung, das gehört zum guten Ton. Dann, und nur, dann würde der Filmtod für die Fans einen Sinn ergeben. Ein Kniff, den man angesichts der bisherigen Dramaturgie der Serie nicht ganz von der Hand weisen kann.

So muss man sich „Game of Thrones“ wie eine Mischung aus Mittelaltermärchen, Shakespeare`scher Tragödie und einer Seifen-Oper à la Dallas mit jeder Menge Familienränke vorstellen. Drachen, Magie und Geister kommen darin ebenso vor, wie Liebesschmerz, Neid und Inzucht. Der Unterschied zu den meisten anderen Filmepen: In Martins Kosmos gibt es kein Gut und kein Böse, kein Schwarz und kein Weiß. Nur allerlei Schattierungen von Grau. So vollbringt fast jede Hauptfigur ebenso Heldentaten wie Schurkereien. Ein Seitensprung gilt fast schon als lässliche Sünde. Bei Vater- oder Brudermord fängt das Strafregister eigentlich erst an zu zählen. Und wer wirklich zwei Folgen lang ohne Missetat durch den fiktiven Kontinent Westeros gewandelt ist, droht garantiert in einer der nächsten Szenen gemeuchelt zu werden. „Valar morghulis – jeder Mensch muss sterben“, lautet das aus der Kunstsprache Valyrisch übersetzte Motto der Serie.

„Valar morghulis – jeder Mensch muss sterben“

Jeder Mensch muss sterben – bis auf Jon Snow, konnte man lange Zeit entgegnen. Denn der uneheliche Sohn des Warlords Ned Stark, einem früh gekillten Helden der ersten Staffel, passte in kein Schema. Er schien irgendwie ohne Sünde zu sein und durfte dennoch leben, ganze fünf Staffeln sogar. Anstatt sich mit seinen Halbbrüdern in den Bürgerkriegen von Westeros zu balgen, zog es Snow vor, sich der Nachtwache zu verschreiben. Einer zölibatär lebenden Ritterkaste, die in einer entlegenen Bergfeste lebt und vor allem eine Aufgabe hat: Westeros vor in Wildnis lebenden Völkern von jenseits der Grenze zu schützen. Zyniker würden sagen, eine Art Frontex des Mittelalters. In dieser rauen Männergemeinschaft wirkte Snow wie der große Außenseiter. Er war gebildeter, weltläufiger und weniger grobschlächtig. Zwar verstand Snow zu kämpfen, dennoch blieben Redegewandtheit und Verstand seine stärksten Waffen. Und als ihm Stanis Baratheon, ein anderer Warlord, anbot, den Mord an seinem Vater zu rächen und gemeinsam die Heimat zurückzuerobern, lehnte Snow ab. Sein Reich schien wirklich nicht mehr von dieser Welt zu sein. Und messianische Feindesliebe und Barmherzigkeit hatte der Grenzritter auch drauf.

Schnell brachte es Snow vom Außenseiter zum Lordkommandanten der Nachtwache. In dieser Funktion traf er dann eine folgenschwere Entscheidung. Als die Stämme jenseits der Grenze vom immer härteren Winter und einer Geisterarmee bedroht wurden, öffnete der Fürstensohn die Grenzpforte. Rasch rief Snows moralischer Imperativ seine Gegner auf den Plan, die, man befindet sich irgendwie im Mittelalter, keine Rechtsgutachten in Auftrag gaben, sondern zu finsterer Tat schritten. In einem Hinterhalt metzelten sie ihren Herrn und Meister. So die vorläufig letzte Szene der Saga, die Fans und Beobachter bis heute verzweifeln oder spekulieren lässt. Zumal auch der Verrat durch Gefolgsleute eine Analogie zum biblischen Messias ist.

Jon Snow ist tot. Aber wie lange?

In der Nacht von Sonntag auf Montag können zumindest die Sky-Abonnenten den Fortgang mit eigenen Augen verfolgen. Alle anderen müssen sich gedulden, bis die sechste Staffel von „GoT“ im Free-TV gezeigt wird oder im Stream bzw. auf DVD erhältlich ist.

Wagen wir eine Prognose!

Mit Sicherheit hat Snow die Metzelei durch die Nachtwache nicht überlebt, ansonsten würde auch Autor Martin seinem „Valar Morghulis“-Grundsatz untreu. Zudem ist es gerade die Stärke von „GoT“, dass die Serie mit allen heile Welt und Happy End-Konventionen bricht. In einem Martin-Plot kann Jon Snow nicht wie Aragorn in „Herr der Ringe“ am Ende als König mit hübscher Braut auf dem Eisernen Thron sitzen. Das wäre ja so etwas von Rosamunde Pilcher.

Preis für Blutzauber wäre zu hoch

Auch eine andere Hoffnung der Snow-Jüngerschaft, die Wiedererweckung durch die Blutzauberin Melisandre, wäre eine dramaturgische Enttäuschung. Sicher, die Hexerin hat Wiederauferstehungen im Repertoire, das hat sie schon eindrucksvoll bewiesen. Auch war sie bereits bei Snow auf der Festung und hat ihn dort ordentlich bezirzt. Aber was wäre das für eine Mesalliance? Hier die böse Frau, die Kinder ins Feuer werfen lässt, damit ihre Väter Kriegsglück haben. Dort der gute Mensch von Westeros, der sein Leben nicht nur für seine Freunde, sondern sogar für Wildfremde hingibt?

Nein, dieses Bündnis erschiene unglaubwürdig und gekünstelt. Zudem dürfte Melisandre nicht die Art von Frau sein, die andere Menschen für lau wieder zum Leben erweckt. Nein, diese obskure Magierin würde einen Preis von Snow fordern. Und der dürfte hoch und schmutzig sein. Zu hoch und zu schmutzig für einen Fast-schon-Messias.

Ist Sansa die wahre Schlüsselfigur?

Wir entscheiden uns deshalb für die Yoda-Variante! Snow stirbt, aber sein Geist lebt weiter. Entweder fährt er in ein Tier ein, was in der Serie auch gängige Praxis ist. Oder der einstige Grenzschützer wird zu einem der Wesen mit wechselndem Gesicht, die ebenfalls zur „GoT“ Grundausstattung gehören. Vielleicht macht es Snow aber wirklich wie Jesus und erscheint den Seinen in verklärter Form. Etwa seiner Schwester Sansa, die für uns die eigentliche Schlüsselfigur der finalen Staffeln werden könnte.

Weibliche Heldinnen sind gerade angesagt im Hollywood-Blockbuster-Kino. Katniss Everdeen aus „Tribute von Panem“ ist zur absoluten Trendsetterin geworden, die in Zeiten der Emanzipation gerade in den USA ziemlich viele Epigoninnen findet. J. J. Abramas hat mit Rey in seinem „Star Wars“-Sequel die wohl bekannteste von ihnen erschaffen. Beatrice Prior aus „Divergent“ ist ein anderes Beispiel. Folgt Martin diesem Trend?

Vom Aschenputtel zur Kämpferin

Dafür spricht: Sansa hat eine enorme Entwicklung genommen. Als braves Mädchen und hilflose Geisel der durchtriebenen Lennister-Sippe ist die älteste Halbschwester Jon Snows einst gestartet. Das Leben, schmutzige Ränke und unglückliche Zwangsehen haben die Lady immer härter und widerspenstiger lassen. Mit unglaublichem Selbstbehauptungswillen ist sie schließlich in Staffel fünf angekommen. Auch töten kann sie inzwischen, das ist unerlässlich bei Game of Thrones.

Erhält Sansa nun, wie einst Luke Sykwalker von Meister Yoda, brüderliche Unterweisungen aus dem Jenseits, könnte die Metamorphose zur Anführerin vollendet werden. Gleichzeitig wird an der Figur Sansa deutlich, was Martins Erzählkunst von anderen Filmhandlungen abhebt. Katniss Everdeen und Beatrice Prior waren von Anfang an stark und sind wohl schon mit geballter Faust auf die Welt gekommen. Sansa Stark musste – nomen est omen – stark werden, weil die Umstände sie dazu zwangen. Den gesamten Prozess kann man in der Serie verfolgen. Es wäre nur Konsequent, würde Martin diesen Wandel jetzt auf einen finalen Höhepunkt zusteuern lassen.

Aber Martin wäre nicht Martin, wenn es am Ende nicht ganz anders käme und auch Sansa bald schon den Gang alles Irdischen gehen müsste. Auch Snow-Jünger müssen zugeben, dass gerade das „Valar Morghulis“, das Wegsterben der Heroen, die ständigen Brüche und unvorhergesehen Wendungen das Salz in der Suppe von „GoT“ sind. Wer das nicht mag, kann „In aller Freundschaft“ schauen.

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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