Doch. Hermine ist schwarz. Oder: Was ist „Kanon“?

Eigentlich dürfte es gar keine Aufregung darum geben, dass Noma Dumezweni Hermine Granger spielen wird, findet Kolumnist Sören Heim. Aber wo die Debatte schon läuft, wirft sie ein paar interessante Fragen auf.


Nicht wenige meinungsstarke Zeitgenossen waren – mal wieder – schockiert. Man twitterte sich die Finger wund. Die Meldung, die kurz vor Weihnachten über die Ticker lief, taugte zum Kunstskandal, und entsprechend sensationsheischend wurde berichtet. Sogar in die GMX-News schaffte es eine simple Theaterpersonalie: Noma Dumezweni wird im Harry Potter Theaterstück „The Cursed Child“ Hermine Granger spielen. Und schockschwere Not! Dumezweni ist schwarz. Das ist ja die Elba-Bond-Debatte all over again! So ein typischer postmoderner Publicity Stunt, ein Anbiedern an Political Correctnes, das ist – nunja, natürlich eigentlich kein Skandal, sollte kein Schock sein. Harry Potter ist immerhin eine weltweit erfolgreiche Franchise, und wenn das Stück erst in unzähligen Schauspielhäusern gespielt werden sollte wird es schwarze Hermines zu Hauf geben. Warum also nicht auch in London? Das denken sich wohl auch, im Gegensatz zur Bond-Kontroverse, viele Fans.
Es ist vor allem aber auch: Eine völlig korrekte mögliche Interpretation innerhalb dessen, was Fans Kanon nennen, also „jenes Material … welches als offiziell gültig für das fiktive Universum anerkannt wird“. Und der erlaubt nicht selten auf den ersten Blick überraschende Deutungen.

Darauf wies auch Autorin Rowling augenzwinkernd via Twitter hin:

„Canon: brown eyes, frizzy hair and very clever. White skin was never specified.“*

Entsprechend falsch liegt die TAZ, wenn sie Rowlings Aussage mit „Grundsatz: Braune Augen, krauses Haar und sehr klug.“ übersetzt. Rowling verleiht hier nicht einer moralischen Überzeugung Ausdruck, sondern macht auf einen, wiewohl naheliegenden, Kurzschluss der meisten Leser darüber aufmerksam, was in den Harry Potter Romanen tatsächlich steht.

(Wutbürgerlich veranlagte Leser jeglicher Couleur, denen  Thesen wichtiger sind als ihre Ausarbeitung, springen hier direkt zum provokativen Schluss – ein Service für Fans und Feinde).

Hineingelesenes, Herausgelesenes, Subtexte

Im Falle des möglichen Bond Idris Elba hatten die Gegner der Besetzung, obwohl die Aggressivität, mit der Elba von nicht wenigen Kommentarspalten-Nöhlern abgelehnt wurde, dann ohne rassistische Unterströme doch wieder nur schwer zu erklären ist, zumindest einige Argumente für sich. Zwar wird auch hier in den Büchern die Hautfarbe Bonds meines Wissens nicht explizit festgelegt – einfach, weil Hautfarbe überhaupt selten explizit herausgestellt wird, wenn sie nicht für den Text relevant ist – zwar lassen spätestens die Verfilmungen die Möglichkeit, dass Bond nur der Deckname wechselnder Agenten ist, fast zwingend werden, und außerdem – seit wann schätzt man Filme eigentlich für die werkgetreue Auslegung einer Buchreihe? Aber ok, immerhin: Einer Auseinandersetzung wie der folgenden von Andreas Kern mit der Figur James Bond lässt sich schwer widersprechen:

„007 ist eben kein x-beliebiger Agent, den man gerade nach gesellschaftlichem Geschmack umstricken kann. Bond is Bond – and Bond is Britain! (…) Weltweit dürfte der Mann mit der Lizenz zum Töten nach der Queen herself ohnehin der bekannteste lebende Vertreter des Britentums sein. “

Ist schon richtig. Bond ist nicht nur symbolisch Großbritannien – eine letze Ikone des glorreichen Empire – innerhalb der Fiktion hängt zudem die Sicherheit des Staates in einer Weise von ihm ab, dass man – vielleicht böswillig – den britischen Institutionen kaum zutrauen möchte einen Schwarzen mit solchen Kompetenzen auszustatten. Hey – sogar die Vereinigten Staaten von Amerika rangen fast 250 Jahre mit sich, bis auch nur der Gedanke daran möglich wurde. Oder unterschätze ich das Empire einfach? In jedem Fall: Ist ein schwarzer Bond unmöglich und „Bond … Britain“, so wäre das gleichermaßen Anlass zu Kritik an der Rolle selbst und an den gesellschaftlichen Umständen, in die sie eingebettet ist.

Identifikatorisches Lesen und dessen Fallstricke

Und Dumezweni als Hermine Granger? Alle Verweise auf mangelnden Realismus dieser Besetzung gehen offenkundig fehl. Auch sind die expliziten kanonischen Festlegungen, wie Granger auszusehen hat, noch weniger eindeutig. So lenken denn die Aversionen gegen Bühnengranger Dumezweni den Blick vor allem auf die je eigene Lesehaltung der Kritiker.

Denn Texte wie Harry Potter werden identifikatorisch gelesen. Ein Leseerlebnis aus dem Blickwinkel der Hauptfigur ist die Norm – unter anderem deshalb gestaltet man in Kinderbüchern, Abenteuerromanen, manch klassischer Fantasy oftmals die Hauptcharaktere so gesichts und charakterlos. Der Leser selbst schafft sich seinen Helden. Das britische Online-Magazin Ferretbrain führt in der älteren Untersuchung Why Ron Weasly isn’t black hierzu aus:

„The thing is: it’s natural for people to assume that a fictional character of unspecified race is the same race as them. Similarly I have a strong memory of seeing a picture in my year nine RE class of a depiction of Jesus from a church in China. Their version of Jesus, of course, looked Chinese, which broke a few of our tiny fourteen year old brains. Jesus is Chinese in China, black in Africa, Caucasian in England.“

Diese Form der Identifikation kann unglaublich mächtig sein. Ich erinnere mich etwa an meine erste Lektüre von Meja Mwangis The Last Plague, einem in einem fiktiven kenianischen Dorf angesiedelten Roman über die Aidskrise der 90er-Jahre – und daran, wie die unwillkürlich beim Lesen aufsteigenden Bilder mir immer wieder weiße Dörfler, weiße Tote zeigten: Vielleicht die Szenerie einer amerikanischen Kleinstadt des mittleren Westens.

„Weiß“ als Nullhypothese

Jedoch ist das Potter-Trio wohl in den Augen der Weltöffentlichkeit – und nicht nur in den Augen der weißen Öffentlichkeit – weiß. Und das wahrscheinlich nicht erst seit Erscheinen der Filme (Ausnahmen – bedenkenswerte gibt es allerdings). Das mag daran liegen, dass das Harry Potter Fandom, wohl auch das Fantasy-Fandom generell noch immer westeuropäisch/amerikanisch/weiß dominiert ist, mit hineinspielen mag auch, dass Leser dazu tendieren einer weißen britischen Autorin und einem Roman, der in England spielt, quasi als Nullhypothese weiße Hauptcharaktere zuzuschreiben. Man kann das problematisch finden oder einfach nur völlig normal, dagegen unternehmen können wird man bisherigen Erfahrungen nach wenig. Selbst Autoren wie Ursula Le Guin, die mit ihrem an Indonesien gemahnenden Inselreich Earthsea angesiedelten Texten diese quasi-automatische Einordnung subtil zu unterlaufen versucht, haben damit zu kämpfen, dass diese Abweichung vom Standartmodell der Fantasy in der allgemeinen Erwartungshaltung kaum wahrgenommen wird. So wurden dann auch für die Verfilmung von Earthsea größtenteils weiße Schauspieler gecastet.

Im Vergleich mit Earthsea mag die Entscheidung des Palace Theatre für Dumezweni wie ein Holzhammer der politischen Korrektheit wirken, der versucht die weiße Hegemonie der Fantasy zu zertrümmern. Und wenn es so wäre? Ist es schlimm, ins Theater zu gehen, und dabei einmal, nur ein wenig, über geliebte Wahrnehmungsmustern nachdenken zu müssen?

A

Allerdings… vielleicht war Noma Dumezweni ja auch einfach die beste Schauspielerin für die Rolle. Hat darüber schon mal jemand nachgedacht?

 

*Wir wollen mal davon ausgehen, dass Rowling den Kanon besser kennt als ich, dessen Potter-Lektüre schon ein paar Jahre zurückliegt. Die beiden bisher von Fans ausgegrabenen Textstellen, die eine definitiv weiße Hautfarbe Hermines im Buch belegen sollen sind zumindest wackelig. Einmal kommt Hermine stark gebräunt aus dem Urlaub zurück, im anderen Fall erscheint ihr Angsterfülltes Gesicht im Mondlicht weiß – beides Formulierungen die man so auch in Romanen von Mwangi, Gurnah, Sembene u.A. lesen kann. Davon ausgehen, Rowling habe Hermine im Buch sogar in Wirklichkeit schwarz konzipiert, sollte man nun aber auch nicht. Tatsächlich tendiert sie dazu, immer ausdrücklich dazuzuschreiben wenn Charaktere vom weißen „Standard“ ihrer Welt abweichen.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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