Zwischen Phantastik und ökologischem Realismus: Wu Ming-Yis „Der Mann mit den Facettenaugen“.

Wu Ming-Yi hat einen Text vorgelegt, der anhand zahlreicher Figuren Taiwan erkundet, wobei ein besonderer Fokus auf die Verschmutzung der Ozeane gelegt wird. Literaturkolumne von Sören Heim


Es ist durchaus ein gewisses Risiko, sich auf ein Buch nur aufgrund eines interessanten Klappentextes einzulassen. Denn a) wird im Klappentext oftmals unglaublich viel Mist erzählt. Und b) kann man natürlich auch einen schwachen Text stark zusammenfassen, solange dieser Text ein paar interessante Merkmale enthält. Und wenn wir ehrlich sind, verrät der Klappentext von Wu Ming-Yis Der Mann mit den Facettenaugen zwar einiges übers Setting, doch sonst wenig über den Roman:

Wandelnde Bäume, wundersame Schmetterlinge, Rehe, die sich in Ziegen verwandeln, und eine Katze, die ein unaussprechliches Geheimnis birgt: Wu Ming-Yi hat mit Der Mann mit den Facettenaugen eine faszinierende Romanwelt geschaffen, in der Klimakollaps, indigene Mythen, Identität und existenzielle Gefühle den Hintergrund für eine vielschichtige und raffinierte Erzählung bilden. Darin begegnen sich die lebensmüde Akademikerin Alice und der in den Tod verstoßene Indigene Atile’i, nur um sich wieder zu verlieren. Die Welt wird sich in der Zwischenzeit radikal verändern. Visionäre Fantastik und harten Realismus verbindet Wu Ming-Yi auf unnachahmliche Weise zu einem literarischen Tsunami, in dem der geheimnisvolle Mann mit den Facettenaugen ein Schicksal vorhersagt, das erst mit dem Buch im Buch, das Alice zu schreiben beginnt, um den Tod ihres Sohnes zu verstehen, in Gang gesetzt wird. In dieser fantastischen Spannung zeigt sich ein hintergründiger, politisch bewusster Roman, der tief in ökologischen Belangen und Fragen indigener Identität verankert ist.

Ich hatte dann auch, in Verbindung mit Titel und Cover, tatsächlich einen noch stärker ins Phantastische spielenden Roman erwartet. Aber, um es vorwegzunehmen, Der Mann mit den Facettenaugen ist ein starker Text mit eigentlich nur einer größeren und einer kleineren Schwäche zum Schluss.

Drei Inseln

Wir steigen ein mit dem Blick auf Atile’i, der auf der isolierten Insel Wayowayo lebt. Diese ist Heimat der (wohl fiktiven? ich finde auf deutsch oder englisch keine Quellen dazu) Wayowayo, und die pflegen den Brauch, nur die erstgeboren Männer auf der Insel leben zu lassen und alle anderen in einem Boot, das sich diese beim Heranwachsen selbst bauen, das Tailawaka, aufs Meer zu schicken. Selbst wenn die Legenden der Wayowayo hübsche Geschichten bereithalten, was mit diesen Männern passiert, wissen zumindest die klügeren Bewohner der Insel: man schickt sie in den fast sicheren Tod. Atile’i aber hat Glück und strandet auf einer seltsamen Insel, die sich später als das Zentrum des berühmt-berüchtigten Great Pacific Garbage Patch herausstellen wird.

Von Alice erfahren wir derweil, dass sie Literatur studiert hat, wie sie in Norwegen ihren späteren Lebenspartner Thom kennengelernt hat, wie die beiden gemeinsam ein an das Sommarhus von Gunnar Asplund angelehntes Haus an der Küste Taiwans gebaut haben und wie schließlich Thom und der gemeinsame Sohn Toto in den Bergen verschollen sind, wobei sich mysteriöserweise bis heute von beiden keine Spur findet. In kurzen Kapiteln führt der Roman noch zahlreiche weitere mindere Haupt- oder größere Nebenfiguren ein, deren Geschichten ich jetzt nicht alle nacherzählen möchte. Eine Art Mittelklimax, die das Gefüge des Romans wild durcheinander wirft, baut sich auf, als der Great Pacific Garbage Patch beginnt, aus ungeklärten Gründen auf Taiwan zuzutreiben. Mit der heftigen Vermüllung der Küste, die die Bewohner wie eine Rache der Natur erleben, kreuzen sich die Wege von Alice und Atile’i.

Der Mann mit den Facettenaugen ist strukturell kein ganz einfacher Roman. Nicht nur bewegen wir uns hin und her zwischen zahlreichen Fokus-Figuren, wir springen auch munter in der Zeit, wenn einerseits teils die entfernten Vergangenheiten der Figuren beleuchtet, andererseits aber auch durch jeweils parallele Stränge teils jüngere Vergangenheiten zumindest ein wenig aufgeklärt werden. So findet etwa der aus der indigenen Ethnie der Bunun stammende Daho zwischenzeitlich zumindest die Leiche von Thom, während Toto weiter verschollen bleibt.

Die phantastischen Elemente des Romans speisen sich aus zwei Quellen: Einerseits lassen sie sich gut als Elemente der Psyche der Protagonisten erklären; ich glaube es gibt keine Stelle, an der zwei Figuren mit unterschiedlichen Hintergründen einen „phantastischen“ Moment in der gleichen Weise erfahren. Andererseits, und das ist eigentlich kein andererseits, sondern ein außerdem, greift der Roman die unterschiedlichen Glaubens- und Erfahrungswelten dreier ethnischer Gruppen auf, die auf und um Taiwan herum leben. Die bereits erwähnten (wahrscheinlich fiktiven) Wayowayo, die Bunun, sowie die Amís, aus deren Mitte Hayfa, eine Freundin von Alice und Betreiberin einer beliebten alternativen Kneipe an der Küste, die der Müllflut zum Opfer fällt, stammt. Offenkundig kann ich wenig dazu sagen, wie falsch oder richtig diese jeweiligen Glaubens- und Vorstellungswelten eingefangen wurden. Im Romangefüge wirkt das aber alles sehr plausibel zusammengesetzt und funktioniert erzählerisch stark.

Die beiden Schwächen – Vorsicht, Spoiler!

Zuletzt die große und die kleine Schwäche. Wer dem Aberglauben anhängt, sogenannte „Spoiler“ könnten die Lektüre eines Werkes verderben, sollte hier aufhören weiterzulesen. Das Fazit kennt ihr ja schon: ein im Großen und Ganzen sehr lesenswerter Text.

Ein wenig gestört hat mich aber doch, dass wir zwar nach Atile’i Abfahrt noch einmal auf die Insel Wayowayo zurückkehren, um.die eigentlich doch sehr interessante Geschichte zu beginnen, wie dessen Jugendfreundin und Geliebte Ussula sich ein eigenes Tailawaka baut, was bei den Wayowayo unerhört ist für eine Frau, und damit tatsächlich in See sticht, um den Geliebten wiederzufinden. Und dann bekommt die arme Ussula, nachdem sie über etwa zwei Drittel des Romans nicht mehr erwähnt wurde, nur noch einen Absatz im Schlusskapitel, in dem berichtet wird, wie ein Schiff die fast tote Frau aufgreift, die noch ein Kind gebiert und dann stirbt. Der Roman ist so voller Unwahrscheinlichkeiten, man hätte ihr doch wirklich noch etwas mehr eigene Geschichte und ein Treffen mit Atile’i gönnen können.

Aber gut, das ist noch weniger eine echte Schwäche als ein „was hätte man besser machen können?“ Vor allem aber stört die Auflösung dessen, was mit Thom und Toto passiert ist, doch sehr. Das heißt: Wie auf diesem Berg-Trip, auf dem dann auch endlich der „Mann mit dem Facettenaugen“ angetroffen wird; jener Mann, der eine erschütternde Wahrheit über Toto derart aus dem Hut zaubert, dass es wirklich die Kraft des Romans im Ganzen ein gutes Stück mindert. Ich warne hier noch einmal: Wer nicht wissen möchte, was los ist, hört hier auf zu lesen.

Ernsthaft: Spoiler!

Also: Dieser Toto war schon jahrelang tot, und hat nur in Alice Kopf bzw. dadurch, dass sie sein Leben im Tagebuch weiter beschrieben hat, weiter existiert. Das wäre vielleicht eine interessante Lösung, wenn der Roman zuvor ausreichend starke Hinweise in diese Richtung gegeben hätte. Aber außer dass der Junge seit einem Unfall nur noch selten spricht (und nicht etwa nie), gab es meines Erachtens keine solchen Hinweise. Und wenn es welche gegeben haben sollte, wurden die dadurch entwertet, dass es sogar ganze Kapitel gab, die im personellen Stil aus der Perspektive des Sohns erzählt wurden. So ist diese Enthüllung dann weniger ein krasser Twist, der dem Lesenden kalte Schauer über den Rücken jagt, als ein „willst du mich eigentlich verarschen ?“-Moment.

Dennoch: Der Roman ist stilistisch, strukturell, in seinen Figuren und zuletzt auch thematisch gut genug gebaut; so dass er wegstecken kann, dass sein zentrales Spannungsmoment zum Schluss implodiert. Denn er ist zum Glück höchstens zu zehn Prozent ein Spannungsroman und ansonsten ein Text, der interkulturelle Begegnungen, Umweltproblematik, persönliche Kränkungen und den alltäglichen Kampf, an einem alles andere als optimalen Leben nicht zu zerbrechen, verhandelt. Also, zum dritten Mal: lesenswert.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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