Verlorene Diva der gesungenen Lyrik: Polly Scattergood
Leander Sukov über eine großartige Poetin und Liedermacherin.
Aus Großbritannien kommen seit gut zwanzig Jahren immer wieder junge Frauen, deren künstlerische Kraft weit über gute Songs hinaus geht. Sie schaffen lyrische Kunstwerke, die auch ohne die Musik überlebensfähig wären, wenngleich die Musik mit dem Text in fast allen Fällen eine symbiotische Verbindung eingeht.
Eine dieser in der tat großartigen Dichterinnen ist Polly Scattergood. Ich stieß auf Sie vor gut zehn Jahren, nachdem der Spiegel sie in einem Artikel als hoffnungsvolles Talent pries. Und in der Tat hatte die Redaktion des Hamburger Nachrichtenmagazins völlig Recht.
Fast alle ihre Songs, man findet sie leicht im Netz, sind von ihr selbst geschrieben. Allerdings gibt es auch Dekonstruktionen von bekannten Songs, so z.B. eine Low-Tempo-Version von „New York New York“ und von „Video killed the Radio Star“.
Sie schafft in ihrer musikalischen Arbeit eine Melange aus elektronischem Chanson und Singer-Songwriter-Liedern; über allem schwebt aber die gekonnte, ja oft große, Dichtung, die fast immer Falltüren aufweist.
Auskomponiert
Ihr erster Longplayer, „Polly Scattergood“, meiner Meinung nach ihre herausragendeste Platte, erschien 2009 bei Mute Records. Schon damals waren auch einige wenige clubtaugliche Songs dabei. Alle jedoch waren vollkommen auskomponiert, enthielten sich schlichter Beatz und kindlicher Sichten. Damit unterschied sich Scattergood quasi von fast allen anderen Newcomern in ihrem Alter. Nichts wurde zu einer easylistening Version um designed. Es handelte sich offenkundig um Komposition und nicht um Sounddesign. Für mich war das eine Erbarmung. Da hatte jemand das Zeug auch in die Charts, zumindest in die Clubs, vorzudringen und das mit einer Musik, die nicht an den dreizehnten Geburtstag der Kids von nebenan erinnerte.
Die Ambivalenz der Dichtung, diese doppelten Böden und Wortfallen sind bei Scattergood das Fundament der Komposition. Ganz deutlich wird das bei Songs, die sich aus ihrer eigenen Tendenz Chanson zu sein herausbewegen und tanzbar werden, weil auch der Text morpht. Ganz deutlich ist das bei „Please don’t touch“, Singer-Songwriter und Elektronik (die Baseline) gehen hier eine Hochzeit ein, die exakt auf den Text passt, in dem es heißt:
Please don’t touch
Please don’t stop and stare
Yes I thank you for your kindness
But there’s sadness in the air
„Miss you“ vom gleichen Longplayer ist eine traurige Liebesbalade, die jedoch zugleich zornig klingt und widersetzlich. Das ist natürlich auch Kitsch, aber eben von der Art, wie er durch die Jahrhunderte immer wieder in großer Dichtung vorkommen muss, weil Liebeskummer an sich ja den Kitsch des Gefühls in sich trägt.
Entwicklung
Polly Scattergood, die 1986 in einem kleinen englischen Fischerdorf geboren wurde und sich ihr Studium durch Arbeit auf dem Londoner Großmarkt verdiente, hat sich musikalisch verändert. Ich zögere, von einer Weiterentwicklung zu sprechen, weil ja schon „Polly Scattergood“ auf hohem Niveau komponiert und gedichtet war. Allerdings weiß ich, dass Scattergood das anders sieht. Sie steht ihren frühen Liedern skeptisch gegenüber. Ich bin da ganz und gar nicht ihrer Meinung.
Was ich durchgängig zu entdecken vermeine, eine Interpretation natürlich, ist eine Verbindung von körperlicher Nähe zu einer Sehnsucht nach Schmerz und Hingabe, nicht immer in einer gewollten Allianz. Das trifft sowohl auf das Vorhandensein, als auch die Verknappung des Schmerzes, beziehungsweise der Akzeptanz der Hingabe zu. Mich haben einzelene Stücke deshalb gleich beim ersten Hören an die „Black Lady“- und „Reitersonette“-Rätsel bei Shakespeare erinnert. Eine Verbindung von Shakespeare zu Scattergood allerdings gibt es kaum. Sie scheitert keinesfalls an der Qualität, sondern an der Art der Dichtung. Zu einer Person, bei der anders ist, komme ich in einer der nächsten Folgen.
Polly Scattergood hat in den Jahren seit 2009 bis heuer vier Longplayer und eine ganze Reihe von EPs und Singles veröffentlich. Es lohnt sich, sie zu erwerben.
Mein Lieblingsstück von ihr war vom ersten Hören an „I am strong“. Eine wunderbares Poem:
I am strong, I am not weak
I am not in a place where I can talk to you
I am not hot, I am not cold
I am not for sale, I am sold
I am unaffected, yet quite confused
In a state of non-security, of non-security
I laugh a lot before I cry
Allerdings zeigt dieses Lied weniger von der großen lyrischen Kraft Scattergoods. Da gibt es andere mehr. Ein immer wieder unterschätztes ist „Bunny Club“, ebenfalls von der ersten LP:
And I hope that theres
No love lost
There
‚No sir. there is no love left in here“
Just oh. just wander in
There’s no love lost
Knots in her hair
And all lines
All lines are stripped bare
Just oh just wander in
There’s no love lost
Finger my pigtails as you
Deal me some cards
As you tell me what the sunset looks like
From your brothers backyard
Das Elend der Freier vermählt sich mit dem Prostituierten, wenn man diese Exegese des Textes wählt, eindruckvoll und zu gleich ohne jede Kitschigkeit, die ja das Gegenteil eines kunstvollen Kitsches ist.
In fast allen Songs Scattergood schwingt ein Verlorensein mit, eine tiefe Trauer, die sich aber zugleich mit einem Widerstand paart, der sie besiegen will. Diese ständige Reibung macht Scattergoods Kunst zu etwas, dass sich fast schon monumental aus der Langeweile des ewig gleichen Wellenschlages aktuelle Musik hebt.
Diskografie (LP)
Polly Scattergood (2009)
Arrows (2013)
In This Moment (2020)
In This Moment (Remixe) 2021
Homepage: https://www.pollyscattergood.com/
Präsenz bei youtube: https://bit.ly/3DkOK96
Site bei Facebook: https://www.facebook.com/polly.scattergood
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