Eine Qual auf 800 Seiten
Jonathan Franzens „Crossroads“ ist lang, geradezu langatmig, und enthält für ein Werk der sogenannten Weltliteratur erschreckend viele sprachliche Schnitzer. Literaturkolumne von Sören Heim
Als Jonathan Franzen 2001 seinen Welterfolg „Die Korrekturen“ veröffentlichte, war das für ihn, aber auch für das Publikum, Ausdruck einer Befreiung. Die „Rückkehr des Erzählens“ hatte gerade ihren triumphalen Siegeszug angetreten, und man wollte sich nicht mehr durch das verkrampfte poetologische Händeringen der modernistischen Hohepriester quälen lassen, durch trockene Experimente und anstrengende Meta-Fiktionen. Franzen schrieb damals einen langen Essay über seine Konversion vom strengen Ästhet, der schwere, kritische Bücher schreiben wollte, zu einem Autor, der sich vor allem den Leser*innen und ihren Bedürfnissen verpflichtet fühlte…
… schrieb Johannes Franzen in der TAZ als Hinführung zu Jonathan Franzens neuem Roman “Crossroads”. Wie kann man (in einer sonst übrigens sehr lesenswerten Kritik) bloß die Selbstinszenierung eines Autors so spiegeln? (Nein, die Autoren heißen nur ähnlich, das ist keine Selbstrezension).
Das sogenannte traditionelle Erzählen
Vor einem knappen Jahrzehnt habe ich erstmals einen Roman Franzens entdeckt. Als Hörbuch auf Kassetten in der Stadtbibliothek. „Die 27. Stadt“ war ein temporeicher, dicht erzählter Politthriller/Krimi, der in einem sanft am Hardboiled geschulten Tonfall auf engem Raum von race über class bis hin zur Vetternwirtschaft zahlreiche auch heute noch relevante politische Probleme innerhalb einer Stadt im Niedergang erzählerisch untersuchte. Um genauer zu sein: Das Hörbuch war so ein Roman. Denn als ich mir Jahre später das Original-Hörbuch zulegte, stellte ich fest: meine Kassetten-Version war natürlich gekürzt. Und dadurch so viel besser! Denn Franzen tendierte schon immer zur Geschwätzigkeit. Was er auch schon immer tat: „traditionell“ erzählen, soweit man das über einen zeitgenössischen Roman überhaupt sagen kann. Denn natürlich ist es nicht so, dass zeitgenössische Erzähler, die sich nicht eng der Postmoderne zuordnen lassen, nicht die Mittel der klassischen Moderne und der Postmoderne innerhalb eines traditioneller wirkenden Roman-Korsetts bewusst einsetzen würden. Ob Updike, Rock, Erdritch oder eben Franzen: Ein ständiger Wechsel der Fokus-Charaktere, aus deren Augen wir für gewöhnlich im personellen Stil die Welt erfahren, ist dominant. Ebenso eine eher filmische Blickführung, und die oft ausgreifenden philosophisch- oder politisch-essayistischen Passagen des klassischen bürgerlichen Romans sparen sich diese Autorinnen und Autoren weitgehend. Derweil waren jene Erzähler, an die man wohl zuerst denkt, wenn man vom „traditionellen“ Erzählen spricht, beileibe nicht dem Naturalismus verpflichtet, der heute meist gemeint ist, wenn man einen Erzähler als Kontrapunkt zur Postmoderne als „traditionell“ lobt oder verdammt. Franzens Dialoge etwa lesen sich oft wie mitstenografiert, während Thomas Manns Figuren doch in einer sehr viel poetischeren und dergestalt auf bestimmte Ideen hin verdichteten Weise reden. Das gilt etwa auch für Dostojewski, selbst für den Schwätzer Tolstoi. Vielleicht spräche man also besser von einem „konsumierbareren“ Erzählen innerhalb des weiterhin modernen Erzählparadigmas. Denn auch die Postmoderne ist ja keine Strömung, die die klassische Moderne abgelöst hätte. Toni Morrison etwa, Salman Rushdie, Arundathi Roy und viele andere der Größten sind sicherlich dezidiert moderne Autoren und teils vielleicht auch postkoloniale Autoren, doch stellen sie sich in einer Ernsthaftigkeit zur Welt, die mit postmoderner Distanz wenig zu tun hat.
Zuletzt brauchte es natürlich niemals einen Jonathan Franzen oder seine Generation, um dem „traditionellen“ Erzählen im englischsprachigen Roman, besonders im Amerikanischen, zu einem Revival zu verhelfen. Der klassische bürgerliche Roman wurde dort ja erst nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt richtig stark, wie überall in der Welt eben in einer Zeit, in der eine Gesellschaft sich ihrer Stärke bewusst ist und trotz innerer Verwerfungen, die es natürlich immer gibt, tendenziell als solide, ja als unerschütterlich erfahren wird. Das sind die politikökonomischen Voraussetzungen des bürgerlichen Romans und dementsprechend hat dieser in den Vereinigten Staaten seit der Nachkriegszeit und dann nochmal nach dem Abflauen der Civil-Rights Kämpfe sehr viele starke Vertreter gefunden. John Updike. Philipp Roth. Tom Wolfe ab „Fegefeuer der Eitelkeiten“. Damit nun nicht alle mit ihren Lieblingskonflikten auftrumpfen. Ich sagte: erfahren wird. Von den Protagonisten und Rezipienten des bürgerlichen Romans, die wiederum eine ausreichend starke soziale Gruppe sein müssen, um sich dieser Erfahrung sicher zu sein. Marginalisierte haben z.B. natürlich diese Welt ganz anders erlebt und auch andere Literatur hervorgebracht.
Franzen ist seit seinem ersten Buch einer von vielen und hat sich, egal was er sagt, nicht erst zum konsumierbaren (Verzeihung „traditionellen“) Erzählen durchringen müssen. Und schon gar nicht gegen einen postmodern „Mainstream“. Der Weg, den Franzen stattdessen gegangen ist, ist der von relativ lang aber halbwegs spannend zu regelrecht langatmig. Schon sperrige 500 Seiten hat das Debüt „Die 27. Stadt“. Ein Roman, dem Kürzungen so gut taten, dass das gekürzte deutsche Hörbuch ein Meisterwerk ist, das englische Original dagegen nur ganz unterhaltsam. Seitdem wachsen die Texte und das jüngste Werk zählt nun schon über 800 Seiten. Und selbst dieses ist nur Teil 1 einer am Ende dann wahrscheinlich über 2000seitigen Trilogie.
Der Roman
Zum neuesten Roman selbst habe ich eigentlich wenig zu sagen, wie so oft, wenn ein Text nur mehr vom Gleichen präsentiert, ohne jegliche besondere Gestaltung, dafür in geradezu brutaler Breite. Johnathan Franzen ist definitiv noch langatmiger geworden. Das scheint ja nun der andere Franzen, der von der TAZ, genau so zu sehen und eigentlich könnte ich es dabei belassen, auf diesen Text (s.o.) zu verweisen. Aber Sie wollen sicher trotzdem hier etwas über das Buch lesen …? Nun denn…
… „Crossroads“ handelt von der Pfarrersfamilie Hidelbrandt im eher ländlich geprägten New Prospect, einer fiktiven Vorstadt Chicagos. Der Vater kämpft als alter Bürgerrechtler darum, in der neuen, von ’68 beeinflussten hippen Jugendarbeit („Crossroads“ ist die Jugendgruppe der Gemeinde) nicht abgehängt zu werden und geht fremd, die Mutter hadert mit ihrer wilderen Vergangenheit in Los Angeles, die Kinder rebellieren, jedes auf seine Weise.
All das geschieht im Stil eines anstrengenden Naturalismus. Als hätte jemand einen Stenografen in diese Familie gesetzt und ihm eingeschärft, auch wirklich jedes Wort und jeden Gedanken zu Papier zu bringen. Bloß nicht entscheiden, was bedeutend sein könnte und was nicht. Bloß nicht zuspitzen, bloß nicht versuchen, einen kunstvollen Schliff in die Formulierung zu bringen. Was erfahren wir inhaltlich? Teenager sind sprunghaft, ihre Eltern sind ihnen teils peinlich, teils sind sie wütend auf sie. Christen haben Sex, und nicht nur mit ihren Partnern! Überhaupt sind natürlich alle Menschen irgendwie heuchlerisch. Im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre fand eine große geistige und gesellschaftliche Umwälzung in den Vereinigten Staaten statt. Na, das ist aber alles mal wirklich was Neues. Vom aktuellen Zeitgeist wird derweil atmosphärisch überhaupt nichts transportiert. Der Text könnte in den 50ern spielen, der Text könnte in den 90ern spielen, er könnte vor dem Ersten Weltkrieg spielen oder auch gerade jetzt. Einzig der Verweis auf historische Ereignisse verortet ihn. Sprache? Komposition? Nope.
Das ist das Problem mit dem konsumierbaren (Verzeihung, „traditionellen“) Erzählen. Zumindest wenn man es anpackt wie Franzen. Denn es gibt ja doch eine Fülle recht konsumierbarer Romane, denen es gelingt, zumindest halbwegs nicht nur Ereignisse, sondern auch den Geist einer Zeit zu transportieren.
Der schreckliche Stil
Hinzukommt, zumindest in der deutschen Übersetzung, ein Stil, den ich lieber mit dem englischen Wort „clumsy“ als mit dem deutschen „tollpatschig“ bezeichnen möchte. Tollpatschig, das klingt viel zu amüsant. Viele Stellen lesen sich tatsächlich so, als habe sich ein intelligenter 16-Jähriger entschieden, einen „literarischen“ Text zu verfassen und natürlich muss das in diesem Alter gleich ein fetter Roman sein, wie es eben die großen Vorbilder auch geschafft haben (Sie sehen, ich spreche aus Erfahrung). Da kommen dann solche Passagen heraus:
Irgend eine Zeitspanne später waren sie nur noch zu sechst dort im Schnee…
Irgend eine? Also eine unbekannte? Oder alles zwischen 20 Minuten und 5 Jahren? Warum nicht „Etwas später / Geraume Zeit später / Einige Zeit später…“?
… Im Wartezimmer [des Zahnarzts] saß nur eine Mutter mit einem Jungen (…) hinsichtlich der oralen Unannehmlichkeiten (!) die ihn erwarteten offenbar unbesorgt…
Metaphern geraten regelmäßig schief, sie klingen, als ständen sie um der Metapher Willen im Text, statt dass sich die Metapher aus dem Text ergäbe. Es werden in bildhaften Vergleichen kleinere Fehler gemacht, etwa behauptet, Eleanor Rigby habe keinen Beerdigungsgottesdienst bekommen. Doch natürlich ist es nicht so, dass es für Eleanor Rigby keinen Gottesdienst gab. Im Gegenteil. Dass es einen gab und dass niemand kam und der Prediger trotzdem seine Predigt hält, das macht ja die tiefe Melancholie der im Song transportierten Bilder aus.
Und richtig schlimm, wirklich ganz ganz schlimm, wird es, wenn es um Sex geht:
Er dachte an den Novembermorgen, als er sie ins Bad hatte humpeln sehen wie eine alte Frau und ihm klar geworden war, wie furchtbar wund er sie in seinem Verlangen nach einem letzten unerheblichen Orgasmus gemacht hatte. Er erinnerte sich, wie sie ins Bett zurückgehumpelt war und er sich kasteit und sie um Verzeihung angefleht und sie es mit einem Lachen abgetan hatte.
(…)
Er drückte eine flache Hand zwischen ihre Beine, prüfte die Elastizität der Locken unter dem Flanell. Während er ihr die Schlafanzughose herunterzog, rückte er näher, um besser sehen zu können. Oh die Schönheit dessen, was er da enthüllte. Dieser unerschöpfliche Reiz (…) Er war mit ihren Brüsten an sich durchaus im Reinen, nur hatte er zu einem zu frühen Zeitpunkt Zugang zu ihnen gewonnen?
Er war mit ihren Brüsten an sich also durchaus im Reinen? Na so ein Glück aber auch!
Das schockierendste von allem, was sie wusste, war für Clem, dass sie sich sehr sehr gern die Vulva lecken ließ (…) Das einzige was schöner war als ihre Vulva zu sehen, zu riechen und zu lecken war der Moment, in dem er seinen Penis dort hinein stecken durfte.
No Shit, Sherlock!?
Oder im weiteren Sinne um Sexualität:
Weidlich geküsst und gestreichelt kam sie um 2 Uhr in der Nacht nach Hause (…)
WEIDLICH GEKÜSST?
Ja, ich habe mich von dem Text oft verarscht gefühlt. Meint der das Ernst? Ist das Selbstparodie?
Immerhin lässt sich an Crossroads wunderbar illustrieren, wie heftig schlechter Stil noch auf die Vermittlung banalster Inhalte durchschlagen kann. Die Gedichte, die der Autohändler für Marion schreibt – die sollen doch höchstwahrscheinlich als schlechter Kitsch gelesen werden und als Charakterisierung des Autohändlers und, ob ihrer Reaktion darauf, auch Marions? Bloß: Wir können uns nicht sicher sein, da der Roman, den der Autor doch höchstwahrscheinlich nicht als schlechten Kitsch verstanden haben möchte, regelmäßig ebenso schwach und schwächer klingt.
Denkbar also, dass Franzen in Marions Reaktion (etwa: Das Gedicht drückt etwas Wahres aus und hat doch immerhin ein paar nicht ganz einfache Reime gefunden, also ist das recht gut) tatsächlich seine Poetik zusammenfasst.
Was für ein Elend. Und die Übersetzung kann daran nicht allein Schuld sein. Zumindest auf die Frage, worüber im Detail erzählt wird und was der Autor auslässt, hat sie wenig Einfluss.
Erzählt ruhig konsumierbar. Dann bitte aber wirklich
All das ist durchaus schade. Denn so sehr ich überzeugt bin, dass die wirklich großen Romane unserer Zeit nur durch Verfahrensweisen geschaffen werden können, die in der literarischen Moderne und Postmoderne entwickelt wurden, die ihre Zeit eben auch sprachlich und formal durchdringen, so sehr ziehe ich einen konsumierbaren Roman im Schnitt diesen modernen Experimenten vor. Denn von 100 Versuchen scheitern 98, vielleicht sogar 101. Und diese verunglückten Experimente oder schlimmer noch diese postmodern Romane um des postmodern Seins willen, sind einfach nur Folter. Texte wie „Die Straßen von Gestern“, auch wenn sie epigonal daherkommen, oder auch die großen bürgerlichen Romane der amerikanischen Nachkriegszeit sind dagegen mindestens intelligente und wohlkomponierte Unterhaltung. Dasselbe gilt auch für viele sogenannte reine Unterhaltungsromane und zahlreiche Stücke der wiederum sogenannten Genre-Literatur. Was solche Autorinnen und Autoren dem großen Schriftsteller Franzen voraus haben, ist ein Sinn für Plot und Komposition, für das Überflüssige, für das Setzen der richtigen „Plotpoints“ – Punkte an denen die Geschichte sich wendet –, das Entwickeln von Konflikten und zuletzt das Hinarbeiten auf eine Klimax, die für „traditionelles“ Erzählen einfach unverzichtbar ist.
Es reicht einfach nicht, wirklich nicht, so viele Worte wie möglich auf so vielen Seiten wie möglich unterzubringen und das Ganze dann einen „traditionell erzählten Roman“ zu heißen. Ach, wie gerne hätte ich die Hörkassette von „Die 27. Stadt“ wieder. Doch unsere Stadtbibliothek hat irgendwann alle Kassetten entsorgt. Diese gekürzte Variante ist bis heute mit Abstand Franzens gelungenster Roman, und man wollte ihm den Text zuschicken. Damit er etwas lernt.
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