Wer Jazz hört, sollte sich mit Matana Roberts beschäftigen
Matana Roberts‘ „CoinCoin, Gens de Couleur Libre“ ist wahrscheinlich eines der größtangelegten Musikprojekte der letzten beiden Jahrhunderte und unbedingt hörenswert, findet Kolumnist Sören Heim.
Es gibt Höhepunkte einer Entwicklung, die gleichzeitig Endpunkte sein müssen. Finnegans Wake von James Joyce war ein solcher in der Literatur. Dieses Prosagedicht in Fragmenten von über 60 Sprachen war die konsequente Weiterschreibung der literarischen Experimente der Moderne allgemein und von Joyce persönlich. Doch endete die Welt nicht mit der Fertigstellung, und auch die Literatur musste weitergehen. Hier anzuschließen, noch eins draufzusetzen, war unmöglich, und so brach Finnegans Wake zwar Grenzen auf und die folgende Literatur lernte mittelbar einiges von Joyce, doch das Werk steht einsam und kennt bis heute kein gleiches.
Höhepunkte, die Endpunkte sind
Etwas Ähnliches lässt sich auch sagen von John Coltranes Ascension und einer Handvoll ähnlicher Werken aus der Reihe der Free Jazz Experimente der 60er und in deren Folge. Diese Geschlossenheit, diese Hermetik, sie lässt sich nicht wiederholen, wenn ein solches Werk einmal fertiggestellt wurde. Alles andere muss klingen wie ein müder Abklatsch. Und wie die Literatur hat sich der avancierte Jazz seitdem dann auch nicht einfach über einen solchen frühen Höhepunkt hinaus entwickeln können, sondern musste andere Wege einschlagen, die oft sanfter wirken, vielleicht gar etwas weniger konsequent, und dafür womöglich zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit sich selbst und der Tradition tendieren. Exemplarisch dafür stehen kann die Entwicklung des Art Ensemble of Chicago, das sich nie in der gleichen Radikalität von den traditionellen Jazz-Formen verabschiedete wie Coltranes Ascension, dafür schon früh die Traditionen aufs Radikalste ausgereizt, gleichzeitig andere Musiktraditionen in den Jazz hineingetragen und insbesondere sich darauf konzentriert hat, bewusst afrikanische Wurzeln des Jazz wieder zu entdecken und hörbar(er) zu machen.
Reise durch die Geschichte der Sklaverei und weiter
Viel Vorrede, um eine Künstlerin in meinem kleinen Trio herausragender Jazzalben vorzustellen: Matana Roberts ist, glaube ich, im deutschen Sprachraum wenig bekannt, doch gibt es von ihr noch viel zu entdecken. Mit dem Album CoinCoin, Gens de Couleur Libre, hat sie den Auftakt einer geplanten achtteiligen Reihe vorgelegt, die bisher auf vier Teile angewachsen ist. Das Werk ist der Urgroßmutter der Künstlerin gewidmet und bemerkenswert durch die Kombination kontrolliert freier Improvisationen und ausgedehnter, mit der Musik verwebter Textpassagen, die eine kontinuierliche Geschichte schwarzen Lebens in den Vereinigten Staaten von der Sklaverei bis ins Heute fortschreiben sollen. Dabei fließen Freejazz, der eher an das Art Ensemble anschließt als an den späten Coltrane, frühere afroamerikanischer Musiktraditionen sowie Spoken-Word-Kunst zusammen. Die instrumentalen Passagen sind auf einer Höhe mit dem Besten, was Pioniere wie Braxton oder Coleman entwickelt haben, allerdings für das ungeschulte Gehör etwas zugänglicher. Für die gesprochenen Passagen, in denen gegen eine relativ verständliche, lose rhythmisch gesprochene Sprechstimme mindestens eine, oft mehrere kaum verständliche stehen, während auch die Instrumente noch dazwischen „plappern“ können, hat Roberts eine Form gefunden, Text in Ihre Musik zu integrieren, ohne in solchen Momenten die Komplexität für die reine Dominanz des Textes aufzugeben, wie es in Jazz-HipHop-Combos oft geschieht. Das strengt an, das tut manchmal auch etwas weh, aber ohne schmerzende Anstrengung sollte eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Sklaverei in den Vereinigte Staaten nicht zu haben sein. Zwischendurch gibt es auch verführerisch einfache Stücke, etwa das wie ein Schlaflied klingende „How much would you cost“ – ausgerechnet dieses scheinbare Angebot ans Träumen, dieses Aufbaulied über den Wert eines jeden Menschen stellt allerdings gleichzeitig brutal die Frage, was der/die Angesprochene wohl auf dem Markt einbringen würde.
Musikalisch-Textliche Doppelstruktur
Überhaupt ist durch das etwa einstündige Album hindurch tendenziell eine gegenläufige Bewegung zu beobachten: Die musikalische Wildheit wird Stück um Stück etwas zurückgefahren, während die Texte immer mehr Gewicht gewinnen. Doch gleichzeitig: Je „einfacher“ die Stücke werden, desto brutaler nimmt sich das Erzählte aus. CoinCoin Ist möglicherweise kein Album, das man sich wird jeden Tag anhören wollen, so effektvoll rührt es an eines der dunkleren Kapitel der Menschheitsgeschichte. Es ist aber sicher eine der größeren künstlerischen Leistungen der vergangenen Jahrzehnte.
Alle vier veröffentlichten Teile von CoinCoin stehen derzeit wohl offiziell auf Youtube. Davon möchte ich das dritte Album noch einmal besonders empfehlen, mit seinen vielfältigen Synthesizer-Klängen (oder anderweitig erzeugten, die an Synthesizer gemahnen) tanzt es in sehr spannender Weise aus der Reihe.
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