Literarisches Kleinod aus den Niederlanden
Maarten `t Harts „So viele Hähne, so nah beim Haus“ wirkt unscheinbar, ist aber ein beeindruckend dichter Kosmos von Kurzgeschichten. Die Sonntagskolumne von Sören Heim
„So viele Hähne, so nah beim Haus“ von Maarten ‚t Hart, wirkt auf den ersten Blick relativ unscheinbar. Ein Band mit Kurzgeschichten größtenteils aus dem eher ländlich wirkenden Leiden in den Niederlanden. Naturalistisch erzählt, in schnörkelloser Sprache, oft mit einem eher geistigen als handlungstechnisch besonderen Wendung.
Aber was sind das für besondere Erzählungen! Die erste, in der ein Vater den Mitarbeiter seiner Bäckerei bedrängt, die versuchte Vergewaltigung der Tochter auf sich zu nehmen, um diese mit dem eigentlichen Vergewaltiger verheiraten zu können, der als der geeignetere Nachfolger für die Bäckerei erscheint, mag die unmittelbar ergreifendste zu sein (und es ist kein schlechter Text) – dennoch enthält das Werk noch viel größere, subtilere Kleinode.
Religion und Musik
Ein zentrales Thema ist die Sympathie für die christliche Religion, insbesondere den „weichgespülten niederländischen Protestantismus“ aus der Sicht der eigentlich atheistischen Protagonisten. Prominent in dem wunderbaren Stück „Die Mutter Ikabods“, in dem der Aushilfsorganist einer kleinen Kirche mit der neuen Pastorin und der Küsterin entscheiden muss, ob ein Gottesdienst stattfinden soll, obwohl kein einziger Besucher gekommen ist. Der Gottesdienst findet statt, und ermöglicht, u.a. auch musikalisch, eine ganz neue Erfahrung von „Kirche“. Oder auch in jener von dem Jungen, der Gott sucht, der angeblich in Warmond wohne und aufgrund eines Gerüchts am Haus des Gemeindevorsteher Fokke Zielstra anlangt, was diesen überhaupt nicht erfreut, muss er doch mittlerweile jeden Tag auf mehrere Kinder reagieren, die hoffen, er sei der gesuchte Gott (ein Lehrer hat wohl das Gerücht gestreut).
Wie in „Die Mutter Ikabods“ spielt auch sonst Musik eine große Rolle. Einen Tag ästhetisch füllen könnte man allein damit, all die Empfehlungen aus der Geschichte „Hundemusik“ anzuhören, in der ein Plattenclub obskure klassische Titel errät, sich gegenseitig bei Fehlern nieder macht und von einem Hund angefallen wird, der Simeon ten Holt mag, diesen Produzenten von „Megakitsch“ (Zitat eines Clubmitglieds).
Aus Versehen atonal
Die Erzählung „Der junge Amadeus“ dreht sich um eine Aufführung von Young Amadeus, die sich einer der Angehörigen für eine Trauerfeier gewünscht hat, und die er gemeinsam mit dem Organisten als Trompeter inszenieren möchte. Doch überwältigt ihn, der sich zuvor als so schroffer wie sensibler Zeitgenosse gezeigt hat, das Andenken an die Verstorbene derart, dass ihm Takt und Melodie total entgleiten. Der Pfarrer aber äußert sich später begeistert:
Ich will mich nur kurz für ihren Beitrag zur Trauerfeier heute Nachmittag bedanken und sagen, dass ich das Stück mit der Trompete ganz wundervoll fand. Vor allem den Anfang, mit all den schiebenden, scheuernden, schwebenden, schwankenden Dissonanten. Danach wurde es leider ein wenig konventioneller, aber die ersten paar Minuten – die klangen herrlich. Nie zuvor habe ich etwas Vergleichbares gehört.
Und der Protagonist, wie alle musikalischen Protagonisten im Buch an sich ein relativ intoleranter Klassiker, muss hier dann vielleicht doch die tiefe Berechtigung neuer Musik einsehen.
Aber gibt es überhaupt mehrere musikalische Protagonisten im Buch? Die Geschichten überschneiden sich offenkundig, der Organist aus „Die Mutter Ikabods“ dürfte auch der aus „Der junge Amadeus“ und anderen Erzählungen sein. Und auch Fokke Zielstra tritt mehrfach auf. Die Verbindungen stellen sich ganz unaufdringlich ein, ohne jemals darauf hinzuweisen, schnürt „So viele Hähne, so nah beim Haus“ mit der Zeit einen Kosmos Leiden und Umgebung. So viele Hähne, so nah beim Haus ist ein großes literarisches Meisterwerk. Ein Meisterwerk, das so unscheinbar daherkommt, dass man fast versucht sein könnte, es zu übersehen.
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