„Jacob Lenz is alive and well and living in Moscow“
Über den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz kursieren zwei konträre Erzählungen: eine der Goethe-Verehrer und eine der Romantiker. Sören Heim hat sich zuletzt mit Lenz beschäftigt und rückt ein paar Dinge gerade.
Person und Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz taugen tatsächlich zur unendlichen Geschichte. Zwei Haltungen scheint es zu dem von Goethe aus Weimar gewiesenen Stürmer und Dränger zu geben, die sich immer mal wieder abwechseln, während wenig dazwischen zugelassen wird. Da sind die Goetheaner, die späteren Verlautbarungen des Halbgottes folgend Lenz als Kind im Manneskörper betrachten, und Goethe praktisch als den weitsichtigen Exekutor des Weltgeistes, der einem, der einfach nicht zu leben verstand und aus seiner Verzweiflung an der Welt noch nicht einmal Literatur zu schaffen fähig war, die längst vorbestimmte Tür wies. Und da sind die Romantiker, worunter man alles begreifen darf, vom späten Schlegeljünger bis zu Uni-Girls and -Boys mit fast vollständig verblasstem Cobain-Shirt, alle die, die, was immer nach System, nach durchdachtem Vorgehen, nach Ausgewogenheit riecht, von vornherein unter Generalverdacht stellen, und dagegen das unschuldige, das reine, Gefühl in Anschlag bringen, dessen edele Verkörperung der leidende Lenz ist. Ich spreche natürlich nur von dem verschwindend kleinen Teil der Gesellschaft, der sich tatsächlich ernsthaft noch immer mit solchen Dingen beschäftigt. Der Rest hat Fortnite und Game of Thrones.
Die leidige Weimar-Geschichte
Ich habe mich zuletzt aufgrund der Arbeit an einem Novellenmanuskript wieder intensiv mit Lenz auseinandergesetzt, und möchte gern ein paar Dinge gerade rücken. In gebotener Kürze zum Goethestreit: Die von Kraft in seiner Lenzbiografien vertretene Haltung, auf die man früher häufig stieß, dass Lenz sich wohl an den Regeln des Weimarer Hofes versündigt habe, wahrscheinlich sogar die Herzogin persönlich beleidigte, dürfte überholt sein. Bereits Damm trug zahlreiche Hinweise zusammen, dass der Konflikt einer zwischen den beiden Freunden war, dass sich der Adel für Lenz einsetzte, und Goethe hart blieb (sträflich übrigens, dass Kraft auf die Arbeit der Pionierin Damm gar nicht eingeht, er müsste doch zumindest seine durchaus interessante abweichende Lesart genau des gleichen Briefmaterials dann genauer begründen können). Damms Linie folgt sogar der konservative Goetheaner Safranski. Alles, was ich an Briefen vorliegen habe (Werke und Briefe in drei Bänden) lässt sich meines Erachtens nur in diese Richtung lesen.
Entscheidend dabei: Es muss bereits vorher Stunk mit Goethe gegeben haben: Die beiden waren sich nicht grün, wie nur schwach verschlüsselt die Waldbruder-Erzählung zeigt. Zwei Weltbilder, zwei Verständnis von Literatur, stoßen aufeinander, und die beiden realisieren, dass der gemeinsame Enthusiasmus des „Sturm und Drang“ das nur verdeckt hatte. Es mag Verstöße gegen die Gebote der Freundschaft geben, die so gravierend sind, dass ein Bruch gerechtfertigt ist. Ob ein solcher Verstoß hier vorlag, ist nicht zu beurteilen. Nicht aufrechterhalten lässt sich aber, dass Goethe einfach die höhere Vernunft der Kompromissbereitschaft mit der Etikette des Hofes hochhielt. Für seine Verstöße gegen diese Etikette wurde auch Goethe gefeiert, für solche Verstöße wiederum feierte anfangs der Weimarer Dichterkreis Lenz. Der Konflikt war wohl aber dennoch ein gesellschaftlicher und persönlicher, nämlich, so meine These, ein geradezu gesellschaftlich notwendiger: Beinahe ein Klassenkonflikt.
Das musste krachen
Ein behüteter Sohn mit besten Adelskontakten und ein halbvagabundierender lupenbourgeoiser Gelegenheitslehrer, eine solche Freundschaft aufrecht zu erhalten, ist schwierig. Zumal Lenz die volle Brutalität der Livländer Leibeigenschaft nahezu täglich vor Augen gestanden hatte, seine ganze Kindheit lang, dann für vier Jahre das ähnlich brutale Soldatenleben und der Menschenhandel dort. Und beider Poetik speiste sich, wiewohl transformiert, ja doch aus den Erfahrungen ihrer verschiedenen Herkünfte.
Zweitens dürfte Goethe in Lenz, wie er auch in Dichtung und Wahrheit selbst zugibt, die große Gefahr für sich selbst gesehen haben, wenn er radikal an früheren Idealen festhält, eben keinen Kompromiss mit dem Zeitgeist eingeht. Goethes politische Lösung war es, einen Ort zu finden, an dem er den Zeitgeist wiederum zumindest teilweise gestalten kann, aller Rede vom in der Welt tätig sein zum Trotz übrigens an einem der großen Welt geradezu entrückten Locus amoenus – Weimar hatte mit Revolution und Reaktion, die in Frankreich und Russland ihre Träger fanden, wenig bis nichts zu tun, war eher Spielball als Akteur. Persönlich war seine Lösung, das eigene Negativbild loszuwerden, in Lenz zu exorzieren. Die Stabilität, um die Goethe ja auch immer wieder mit seinen „Melancholien“ (wohl Depressionen?) zu kämpfen hatte, ist auch gegen den Dichter-Bruder mühsam aufgebaut. Nun sollte man von dieser Warte nicht Goethe verurteilen, wenn er auch hätte mit Lenz vielleicht abgeklärter brechen können – doch können wir in Goethes Herz schauen. Aber: Goethes Weg stand Lenz nie offen, das ist wohl das Entscheidende.
Also: Doch Goethe das Schwein & Lenz der Esel?
Lenz hätte Weimar wahrscheinlich auch ohne die berühmte „Eseley“ verlassen. Häufig schon äußert er sich vor dem Eklat in Briefen und Notizen unglücklich über die Weimarer Atmosphäre, sieht sich als den Hofnarren, den er teilweise wohl auch wirklich spielen muss. Bereits in Straßburg hat er eine interessante Stelle ausgeschlagen, dass er sich dauerhaft hätte in Weimar z.B. als Vorleser verpflichten lassen, ist mehr als fraglich. Man wird wohl kaum behaupten können, dass die Weimarer Episode Lenz in den bekannten, von Büchner verarbeiteten Wahnsinn getrieben hat. Er verlebte nach Weimar übrigens auch noch spannende und teils glückliche Jahre, zuerst bei Cornelia Schlosser (Goethes Schwester), dann unter anderem bei Lavater und herumreisend in der Schweiz. Er stellte auch weitere Stücke fertig, nebenbei bemerkt teils sauberer und kompakter gearbeitet als die drei, für die er berühmt ist.
„Jacob Lenz is alive and well and living in Moscow“
Überhaupt, und das ist das Entscheidende, lebte Jakob Lenz noch bis 1792. Zwischen der Oberlin-Episode und etwa 1781 liegen düstere Jahre, Rückkehr in den Schoß der Familie, Rückfälle in seine Krankheit, eine missglückte Anstellung, unerwiderte Liebe, undokumentierte Monate, wahrscheinlich wieder auf Wanderschaft. Außerdem ein glückloses Gastspiel in Petersburg. Von 1781 bis 1792 wird Lenz Moskowiter. Er unterrichtete mehrere Jahre an einem Pensionat, übersetzt Werke zur Russischen Geschichte und Literatur. Am Herzen liegen ihm die Handelsbeziehungen seiner Heimat Livland zur neuen Heimat Russland. Dass der Osten ein großer Wachstumsmarkt werden könnte, sieht er sehr klar. Auch schließt Lenz Freundschaft mit den bedeutendsten russischen Aufklärern seiner Zeit. Nowikow, Kutusow, Turgenew und vor allem Karamsin. Dokumentiert ist, dass er Vorträge hält, unter anderem über den Goetz und den Werther, die Verwundung durch den Freund scheint er also von dessen Literatur trennen zu können. Ebenfalls relativ sicher, dass er Karamsin, mit dem er zeitweise im gleichen Haus wohnt, mit Kant bekannt gemacht hat. Dass neben der christlichen Note also auch eine dezidiert rationalistische Aufklärung in Russland Fuß fasste, dürfte Lenz mit zu verdanken sein. Auch Karamsins Shakespeare-Begeisterung koinzidiert auffallend mit der Zeit des Wirkens des Deutschen unter den russischen Freimaurern.
Wirken ist das Stichwort. Tätigkeit. Oder wie Lenz es formuliert: „Handeln ist die Seele der Welt“. Seine Arbeit in Russland muss unterschlagen, wer aus Lenz einen frühen Romantiker machen möchte. Der russische Lenz ist ein recht Goethescher Typ: Weit vor der Dichtung kommt die Beschäftigung mit wirtschaftlichen und politischen Projekten, Übersetzungsarbeiten und das Anleiten Jüngerer stehen auf dem Programm. Gewiss ist Lenz davon immer wieder von Ausbrüchen seiner Krankheit abgehalten, und dass die Freunde seine Briefe verbrannten, könnte darauf hinweisen, dass er mit Geheimnissen etwas sorglos umging. Und: Lenzens Erfolge, wenn es sie denn gab, sind natürlich sehr viel schwerer nachzuweisen als etwa die Goethes. Dann wiederum: Kamen die nicht am Ende dann doch vor allem später, durch die Dichtung, in die Welt? Goethes Erfolge als Politiker fallen, aus der Nähe betrachtet, doch auch eher Mau aus.
Alles andre als ein gescheiterter Dichter
Als Schriftsteller dürfte Lenz bis heute der drittmeist gelesene der Stürmer und Dränger sein. Für die Weimarer Klassiker könnte ähnliches gelten (liest noch wer Herder und Wieland?) Er war, was vollendete Dramen betrifft, ähnlich produktiv wie Schiller (10), und ist bis heute neben Goethe der lesbarste Dichter aus ihrer gemeinsamen Zeit („Sire, gebt Gedankenfrieheit“, heißt es im Don Carlos – Aber ach, der Herr gab Schillern leider nur Gedankenlyrik). Und wem nach einer Zusammenschau von Dichterschicksal und Weltlauf ist: Sowohl ästhetisch als auch politisch hat sich das Lenzsche Verständnis durchgesetzt. Die beiden Wilhelm Meister haben trotz ihrer Gemütlichkeit in ihrem Montagecharakter etwas Lenzsches, noch mehr allerdings die beiden Fausts mit ihren teils raschen, oft wilden Szenenwechseln. Die Schnitte der Soldaten sind 150 Jahre vor dessen Aufkommen die des modernen Films. Lenz selbst hat an alldem allerdings wohl wenig Anteil, es sind Veränderungen, die in der Luft lagen, und die einer, der mehrfach durch die Gosse gegangen ist wahrscheinlich einfach früher erspürte als andere, die in ihren Blasen lebten. Auch was die Schrift zur Neuorganisation des Soldatenwesens angeht, die Lenz bis zum Lebensende am Herzen lag, hatte Napoleon viele der besseren Ideen aus dem Traktat umgesetzt, ohne es zu kennen. Selbst die Armeen der größten Despoten funktionieren heute teils nach dem Lenzschen Freiheitsideal, nachdem man dem Soldat die Möglichkeit geben soll, sich mit der Sache, für die er kämpft, aus eigenem Interesse zu identifizieren.
Auch wenn der Konflikt zwischen dem großen Schriftsteller, und dem, an den man sich heute nur noch erinnert, eben weil er Partei jenes Konfliktes war, ein interessantes Thema für Spekulationen sein mag: JMR Lenz lohnt die Beschäftigung als Dichter und Denker ebenso wie als Ideengeber anderer Denker, zudem als einer, an dessen Leben sich exemplarisch die Verwerfungen des frühmodernen Europas nachvollziehen lassen. Lenz ging dahin, wo die Weltgeschichte machtvoll rumorte.
Schlusspointe: Dass wir heute so viel von Lenz noch lesen können, das haben wir wiederum wahrscheinlich Goethe und dessen unfreundlicher Haltung gegenüber Lenz zu verdanken. Denn ob die Literaturwelt sich in gleicher Weise an einen Dichter erinnert hätte, der 1778 auf den Kopf gefallen ist und in den letzten 15 Jahren seines Lebens nur noch Wirtschaftsgeschichten verfasste, ohne je mit Goethe aneinander zu rasseln, ist durchaus fraglich.
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