Deutschland einig Wolfsland

Seit über 30 Jahren treiben die „Grauen Wölfe“ größtenteils unbehelligt ihr Unwesen, beklagt Marcus Munzlinger. Ihre Opfer: Menschen kurdischer Herkunft, Linke, Journalistinnen und Journalisten oder auch türkischen Frauenrechtlerinnen.


In vielen Regionen zwischen der Lausitz und dem Münsterland erregt der Wolf derzeit die Gemüter: Betroffene Schafshirten und verängstigte Hundebesitzerinnen echauffieren sich über den NABU und grüne Landwirtschaftspolitik. Weniger Beachtung findet die bereits seit den 70er Jahren anhaltende Ausbreitung so genannter „Grauer Wölfe“ in der deutschen Verbands-, Vereins- und Parteienlandschaft. Ihre Opfer: Menschen kurdischer Herkunft, Linke, Journalistinnen und Journalisten oder auch türkischen Frauenrechtlerinnen.

Vorbilder Hitler und Mussolini

Es ist der 28. April 1978. Der sich – in bewusster Anlehnung an seine Vorbilder Hitler und Mussolini – „Führer“ nennende Alparslan Türkes, Gründer der ultrarechten „Partei der Nationalen Bewegung“ MHP, trifft in München auf einen untersetzten Mann mit markantem Kieferknochen und immer noch großen Ambitionen. Es ist Franz Josef Strauß, wenige Monate vor seiner Vereidigung als bayrischer Ministerpräsident und seiner Kandidatur als Bundeskanzler. Sein unionsinterner Intimfeind Helmut Kohl hatte das Treffen mit Türkes abgelehnt. Die von dem MHP-Gründer in den 1960er Jahren aufgebauten Milizen sind tief in die bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Türkei verstrickt, auf ihr Konto gehen Bombenanschläge, Attentate und Verschleppungen. Ihre Opfer sind linke Studentinnen und Studenten, Gewerkschafter*innen und kurdische Aktivistinnen und Aktivisten.

Strauß ist als glühender Anti-Kommunist bekannt dafür, dass er rechtsradikale Bewegungen überall auf der Welt unterstützt, wenn er sie für fähig erachtet, in instabilen Ländern linke Bewegungen entscheidend zu schwächen: Ob in Spanien, Italien, Argentinien, Chile, Indien oder Angola. Im Falle Türkes aber geht es Strauß wesentlich auch um etwas anderes: Die MHP soll darin unterstützt werden, in Deutschland selbst Fuß zu fassen.

Politische Tollwut
als Basis eines türkischen Faschismus

Türkes Ideologie basiert – typisch für nationalistische Erzählungen – auf einem volkstümlichen Mythos. In einem schweren Winter hätten sich die Turkvölker der Führung eines Wolfes angeschlossen, der sie durch die Berge des Kaukasus in die heutige Türkei brachte. Daher seien alle Turkvölker in ihrer Natur „wölfisch“, also frei, ungebunden und beständig auf der Jagd. Das macht das Wesen der von Türkes aufgebauten „Ülkücüler“ (Idealisten)-Bewegung aus: Ein Spross der Turkvölker sei rastlos, nur seinem nationalen Ideal verpflichtet, unbeugsam und ständig auf der Jagd. Natürlich kann gerade letzteres abstrakt philosophisch verklärt werden, wie es in Deutschland vor allem durch den islamischen Verband ATIB passiert, über den später noch zu sprechen sein wird. Doch unter Türkes Führung geschah gerade in den letzten Jahren vor dem Militärputsch in der Türkei 1980 eben das, wonach die Parolen klangen: Gejagt wurde der politische Gegner.

Über Strauß Kalkül Türkes gegenüber kann heute nur spekuliert werden. 1978 schien ein linker Umsturz in der Türkei und als Folge die Ausrufung auch einer Sozialistischen Republik Kurdistan nicht allzu abwegig. Die entsprechenden Organisationen waren auch unter türkischen und kurdischen Arbeiter*innen stark vertreten. Überliefert ist, dass der Verfassungsschutz wie der BND der Bundesregierung zu verstehen gaben, dass sie mit der Überwachung der Aktivitäten dieser Milieus überfordert waren. Neben banalen Sprachproblemen bei der Analyse kamen sie vor allem bei der Infiltration mit V-Leuten in die jeweiligen Organisationen nicht weiter. Womöglich sah Strauß in der Förderung militanter rechter Gegenstrukturen hier einen wirksamen Plan B.

Briefkästen als Wolfshöhlen

Die Ansiedlung der Grauen Wölfe in Deutschland wurde durch einen gewissen Dr. Hans-Eckhardt Kannapin angeleitet, seines Zeichens CDU-Stadtverordneter in Schwalmstadt und Türkei-Experte des BND. Er organisierte die Einreise von Vertrauten Türkes, in denen er sie im „Türkei Institut“, einer Briefkastenfirma, beschäftigte. Unter ihnen war auch Musa Serdar Celebi, der spätere Gründer der bereits erwähnten ATIB. Außerdem mietete Kannapin schließlich jene Halle an, in der die Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland (ADÜTDF) gegründet wurde. Die erste Organisation der Grauen Wölfe in Deutschland war geboren. Ihre Hebammen waren die deutsche Politik und die deutschen Geheimdienste.

Seit diesem Tag haben Graue Wölfe Angst und Schrecken in migrantischen Milieus in Deutschland verbreitet. Sie überfielen Kundgebungen türkischer Gewerkschaften, griffen kurdische Demonstrationen an, schüchterten türkeikritische Journalisten ein. Aber auch Beratungsstellen für Frauen mit Fokus auf die Situation in türkeistämmigen Familien gerieten in den Fokus der straff organisierten Banden. Das Geschlechterbild der türkischen Faschisten ist – was sonst – ultrapatriachal. Feminismus gilt als Zersetzung der natürlichen Ordnung und der türkischen Nation.

Die MHP wurde von 1981 bis 1987 in der Türkei verboten, Türkes kam ins Gefängnis. Die Militärjunta legitimierte ihre Herrschaft als „Widerherstellung der öffentlichen Ordnung“ und meldete das Monopol auf die Verfolgung von linkem und kurdischem Widerstand an. Während von der türkischen Rechten etwa 600 Personen in türkischen Gefängnissen landeten, traf es hingegen knapp 23 000 Linke und Kurden. In diesem Kontext kam es zur Spaltung der ADÜTDF und Gründung der ATIB: In seiner Verteidigungsrede behauptete Türkes, den Kontakt zum Vorsitzenden der ADÜTDF in Deutschland, Celebi, abgebrochen zu haben, nach dem er über Celebis Kontakte zu Mehmet Ali Aǧca unterrichtet worden war. Aǧca war ein bekannter Terrorist, der zuvor prominente linke Politiker in der Türkei umgebracht hatte. Internationale Bekanntheit erhielt Aǧca durch sein Attentatsversuch auf Papst Johannes Paul II im Frühsommer 1981. Jedenfalls wurde bewiesen, dass Celebi bei der Kontaktaufnahme im Auftrag Türkes gehandelt hatte.

Heulen zu Ehren Allahs

Beide, ADÜTDF und die „Union der türkisch-islamischen Kulturvereine in Europa“ ATIB existieren noch heute. Celebi, der einst nach Vermittlung Türkes bei Strauß durch den BND in Deutschland scheinbeschäftigt und aufgenommen wurde, der die Etablierung militanter und ideologischer türkisch-faschistischer Strukturen wesentlich mitbeförderte und Verbindungen zum Terrorismus in der Türkei unterhielt, wurde 1987 nicht bei der Gründung der ATIB auch nur irgendwie behindert. Im Gegensatz zur ADÜTDF gab er der Idealisten-Bewegung eine etwas deutlicher religiöse Ausrichtung. Die Größe der Nation, die Celebi auch im Sinne eines „europäischen Türkentums“ verstand, drücke sich auch in der Ausübung des wahren Glaubens und seiner Verbreitung aus. Die ATIB begann, sich als Islamverband zu etablieren.

Heute ist die ATIB eine der mitgliederstärksten Organisationen im Zentralrat der Muslime (ZMD), dessen Vorsitzender Mazyek von der deutschen Politik – besonders bei der staatlichen Inszenierung von „Einheit“ nach Terroranschlägen – sowie Talkshows gerne als „Gesicht der Muslime in Deutschland“ vorgezeigt wird. Mazyeks Stellvertreter ist (man achte genau auf den interessanten zweiten Vornamen) Mehmet Alparslan Celebi, Vorsitzender von ATIB und Sohn des Verbandsgründers. ATIB hat die ADÜTDF in ihrer Bedeutung mittlerweile klar überholt. Wie die DITIB betreibt auch ATIB Moscheevereine, in denen Imame im Auftrag des Präsidialamtes für Religion des türkischen Staates beschäftigt sind.

Wölfe in Nadelstreifen

Dass der faschistische Idealismus bei ATIB religiös verbrämt wird bedeutet nicht, dass es zu einer Trennung der Milieus kommen würde. Celebi ging es viel mehr um Anschlussfähigkeit im türkischen Diskurs nach Ende der Militärherrschaft 1987. Außerdem bietet die Vergabe von Privilegien als „Religionsfreiheit“ durch den deutschen Staat sowie dessen Problem, dass der sunnitische Islam nicht kongruent zu den christlichen Kirchen institutionalisiert ist, enormen Handlungsspielraum für einen solchen Verband. Die ATIB betreibt Lobbyarbeit gegen den Einfluss säkularer Migrantenvereine, kurdischer Interessensgruppen und für die politische Repräsentanz des türkischen Staates in Deutschland. Auf ihren Versammlungen wird der „Wolfsgruß“ regelmäßig entrichtet, ihre Feste gelten als Rekrutierungsfeld für militante Graue Wölfe. Und in den Moscheen der ATIB sind eben solch nationalistische und antisemitische Parolen zu hören, wie sie jüngst gegenüber der DITIB skandalisiert wurden.

Dass die Grauen Wölfe längst nicht nur in muslimischen oder Migrantenverbänden Politik machen, ist seit einigen Jahren Gegenstand einer auf Sparflamme kochenden Debatte. Vor allem die CDU und die SPD, aber auch die Grünen hatten ihre Skandale mit prominenten Mitgliedschaften von Grauen Wölfen oder Wahlkampfauftritten vor einschlägigem Publikum. In einer aufschlussreichen Dokumentation des ZDF schildern ehemalige militante Kämpfer der Grauen Wölfe, dass die Gewalt unter Anleitung einiger Kader von Jugendlichen aus Problemvierteln ausgeht, während die Älteren, dem Milieu entwachsen, sich der Entfaltung von Einfluss in deutschen Parteien widmen. Die Unterwanderung hat also Programm. Anzunehmen ist aber auch, dass in einigen Wahlbezirken der Einfluss der grauen Wölfe durch die Parteien gern bewusst als Hebel zur Mobilisierung von Wählerstimmen genutzt wird.

Blinde Lämmer

Die Gewalt geht indes weiter. Derzeit machen regionale Gruppen der Linksjugend [solid] mit einer Solidaritätskampagne auf die Einschüchterungsversuche gegen den niedersächsischen solid-Aktivisten Natig Mammadov aufmerksam. Seine politische Öffentlichkeitsarbeit gegen die Strukturen der Grauen Wölfe führte dazu, dass seine Privatadresse und Telefonnummer in den Netzwerken der türkischen Faschisten veröffentlicht wurden. In dieser Situation müsse „jeder Antifaschist auf der Seite Mammadovs stehen“, so solid in der Solidaritätsnote. Dies hielt indes „Marx21“, ein wirkmächtiges Netzwerk innerhalb der Linkspartei, nicht davon ab, den ZMD Vorsitzenden Mazyek zu ihrem diesjährigen „Marx is Muss“ Kongress einzuladen. So finden als starke ZMD-Mitgliedorganisation zumindest mittelbar die Wölfe nun auch in der „Linken“ Anschluss.

Marcus Munzlinger

1983 geboren in Berlin, aufgewachsen in Schleswig-Holstein und Hamburg. Studium der Romanischen Philologie mit Schwerpunkt Spanische Literaturwissenschaften im Hauptfach Magister an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit den Nebenfächer Soziologie und Pädagogik. Vorstandsarbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Schleswig-Holstein und Ausschussarbeit in der Jugendbildung der Rosa-Luxemburg-Bundesstiftung in Berlin. Redaktionsarbeit bei der Gewerkschaftszeitung Direkte Aktion in den Ressorts Kultur & Globales. Seit 2014 Mitarbeiter im Programmteam des Kulturzentrums Pavillon in Hannover im Bereich Gesellschaft & Politik. Daneben freie journalistische Arbeit mit Veröffentlichungen in der Jungle World, ak – analyse & kritik und Straßen aus Zucker.

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