Literatur und „Realität“ – Nachgedanken zur Auseinandersetzung mit Karl-Heinz Bohrer.
Kolumnist Sören Heim kehrt noch einmal zurück zum Thema „Kunst und Realität“
Können wir durch Literatur einen Zugriff auf die „Realität“ erlernen? Die Frage ist im Hintergrund einiger meiner literarischen Essays und in vielen Debatten über Literatur präsent. „Realität“, so möchte ich dabei einmal ohne weitläufige philosophische Vorüberlegungen die Welt nennen, über die wir uns in Gesprächen und mithilfe von Wikipedia noch halbwegs einig werden können, dass wir sie wahrnehmen. Adenauer war Bundeskanzler, ein Kranich ist ein großer Vogel, man sollte aufpassen, wenn man eiskalte Gegenstände ableckt. Solche Dinge.
Ich warne regelmäßig davor, aus Literatur Kurzschlüsse zu ziehen. Die Laiensoziologie, durch die die Literatur“wissenschaft“ in der Breite ästhetische Fragestellungen verdrängt hat, halte ich für nicht unproblematisch. Dickens sagt uns erst einmal weniger über das Leben in England im 19. Jahrhundert, als darüber, wie Figuren in Dickens Büchern zueinander stehen. Austen ist keine Historikerin der Rolle der viktorianischen Frau, sondern erstmal eine Schriftstellerin, die einige der stärksten und dabei leichtesten psychologischen Romane in englischer Sprache geschrieben hat. Auch heuristisch ist es sehr hilfreich, diese starke Trennung von Werk und Welt vorzunehmen: Sie verhindert, in die Realismusfalle zu tappen, bei der man ein Kunstwerk vor allem daran misst, wie sehr es mit dem überein stimmt, was man für die Wirklichkeit hält oder noch schlimmer, wie sehr es die eigenen Überzeugungen wiedergibt.
Dennoch denke ich, sollte man sich im Klaren sein, dass es sich dabei um eine Hilfskonstruktion handelt, die es ermöglichen soll, das Werk auf seine ästhetischen Qualitäten hin abzuklopfen. Schon wenn ich von der Figurenpsychologie Austens etwa rede, verweise ich streng genommen ja auf einen Begriff von Psyche, der nicht mehr im Werk liegt. Entsprechend scharf bin ich mit dem konservativen Literaturkritiker Karl-Heinz Bohrer ins Gericht gegangen, der, von mir nur leicht zugespitzt, gewissermaßen nicht nur verlangt, man solle in der kunstkritischen Betrachtung Der Herr der Ringe und Gespräch in der „Kathedrale“ als Werke gleicher Ordnung, als Werke mit identischem Bezug zu dem nehmen, was ich oben breit definiert „Realität“ genannt habe. Dass Bohrer diese Herangehensweise selbst ständig konterkariert, kann man im entsprechenden Essay nachlesen.
Nein, man kann aus Literatur heraus nicht naiv Aussagen über die „Realität“ treffen. Literaturwissenschaft, oder besser Literaturkritik, ist keine Soziologie. Gleichzeitig: Wir erleben als Leser immer wieder, dass man es eben doch kann. Ich habe Gespräch in der „Kathedrale“ nicht zufällig Der Herr der Ringe gegenübergestellt. Dieses Buch und einige weitere Werke Mario Vargas Llosas machten es mir, als ich in Russland einen peruanischen Studenten kennenlernte, sehr viel einfacher, mit ihm gleich eine enge Verbindung aufzubauen. Ich verstand einfach unglaublich viel, was er von seinem Leben und dem seiner Eltern erzählte, kannte Orte, zu denen er eine emotionale Verbindung hatte, wusste viel über die Geschichte seines Landes. Ja, teilweise habe ich meine ersten Lektüren der Werke Llosas mit Geschichtsbüchern bzw. Wikipedia begleitet. Aber was Historie und Szenerie betrifft gab es gar nicht soviel, was man hätte „korrigieren“ müssen. Ein ähnliches Ergebnis hätte ich auch ohne Wiki erreicht. Und als Leser viktorianische Romane stehen die Chancen ganz gut, dass ich mich mit einer Studentin oder Dozentin der Geschichte des viktorianischen Englands deutlich besser unterhalten könnte, als hätte ich mich mit diesen Lektüren nicht beschäftigt.
Und das ist jetzt nur die „Realität“ im Sinne von Faktizität. Auch menschliche Gefühle und Interessenslagen erschließen uns die Werke großer Schriftstellerinnen in einer Weise, wie es selbst der persönliche menschliche Kontakt allein nicht immer kann. Auch das alles ist eigentlich trivial, aber im Spannungsfeld zwischen Koryphäen wie Bohrer, die um der „reinen“ Ästhetik Willen tatsächlich versuchen, jede Verbindung zu kappen und der heute virulenten Literaturwissenschaft als Sozialwissenschaft ohne empirische Gegenprüfung und Statistik ist es vielleicht doch sinnvoll, all das einmal wieder festzuhalten.
Literatur hat in unterschiedlich vermittelter Weise dennoch sehr viel unmittelbarer Gesellschaftliches und Geschichtliches zum Material als etwa Musik und zumindest der Großteil der Malerei heute. Aus Texten heraus sich Urteile über historische Situationen oder gesellschaftliche Entwicklungen zu bilden ist dennoch gefährlich und voller Hürden. Tatsächlich entsteht ein immer brüchiges, doch mit zunehmender Erfahrung auf seine Verlässlichkeit abklopfbares Bild erst im Zusammenspiel zahlreicher Werke, und damit schlagen wir den Bogen zurück zur dominanten Bedeutung des Ästhetischen in der Kunst, selbst wenn wir vermittelt durch die Kunst über Gesellschaft sprechen, gerade dadurch also, dass wir die Brüche im vermittelten Bild, die Bearbeitung, eben das zur-Kunst-Machen des reinen Stoffes, der durchaus auch ganz „falsch“ aufgefasst sein kann und dann trotzdem zur großen Kunst taugt, reflektieren und reflektieren lernen. Gäbe es aber den Bezug nicht, stünde das Werk wirklich ganz isoliert von seinem Außen, wären all die Dinge die wir an großer Literatur loben, also etwa das Säen von Zweifeln, das Überhöhen des Profanen in eine bedrohliche Schönheit, das Erschüttern von Gewissheiten, das Gegeneinanderstellen von Positionen und so weiter und so fort, gänzlich irrelevant. Nein, nicht einmal denkbar. Und das ist es dann ja auch, was Bohrer immer wieder passiert. Dass er, der das Werk der „Realität“ gern so weit entrücken würde wie nur irgend möglich – und das nicht allein aus heuristischen Gründen –, dann Werken immer wieder Fehler im Bezug zur „Realität“ vorwirft.
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