Erste vollständige deutschsprachige Version eines großen Werkes aus Japan

Das „Kopfkissenbuch“, geschrieben etwa um das Jahr 1000, ist ein Panoptikum von schlichter Schönheit und unbedingt lesenswert. Rezension von Sören Heim


Mit einer partiellen englischen Übersetzung von Das Kopfkissenbuch von Sei Shōnagon hatte ich vor einigen Jahren wenig Spaß. Mag sein, dass die englische Sprache sich generell schwer tut, die schwebende Ästhetik dieses oft in sich gekehrten, dann von Beobachtung zu Beobachtung springenden, dieses reflektierenden Tonfalls zu treffen, der das Werk zumindest in der nun erschienenen ersten vollständigen deutschen Übersetzung von Michael Stein auszeichnet. Nicht, dass zerbrechliche Schönheit im Englischen nicht möglich wäre, Woolfe, (der junge) Joyce, Ali Smith, Arundhati Roy und viele andere beweisen das Gegenteil. Aber zumindest lag diese sprachliche Brillianz außerhalb der Reichweite der Übersetzung aus der Norton Anthology of World Literature.

„Im Frühling liebe ich die Morgendämmerung, wenn das Licht allmählich wiederkehrt, die Umrisse der Berge sich schwach vor dem hellen Himmel abzeichnen und schmale, rosa angehauchte Wolkenstreifen über sie hinwegziehen.Im Sommer sind es die Nächte. Besonders die Mondscheinnächte, die es mir angetan haben. Aber selbst die Finsternis hat ihren Reiz. Wenn Glühwürmchen in großer Zahl umherschwirren. Wie hübsch der Anblick von einem oder zweien, die sich mit schwachem Glimmen bewegen! Regennächte sind ebenfalls stimmungsvoll.“

So hebt die Sammlung von Erinnerungen und Beobachtungen an, die sich ganz grob in jahreszeitliche Naturbilder gliedern lässt, in Szenen aus dem Leben am Hofe der Kaiserin Teishi sowie in essayistische Reflexionen, besonders zu der Dynamik der Geschlechter. Es ist leicht einsichtig, dass bei aller Unsicherheit, die Literatur dahingehend mit sich bringt, das Kopfkissenbuch eine fast unerschöpfliche Quelle zum Leben der Oberschicht im Japan der Heian-Zeit sein dürfte. Für den nicht Japanologen allerdings ist vor allem entscheidend: Die kurzen Szenen sind von klar-bildlicher sprachlicher Schönheit, die Beobachtungen wirken präzise, die vorgestellten Menschen erwachen in wenigen Sätzen zum Leben, wie es vielen anderen Autoren in ausufernden Beschreibungen nicht gelingt. Das Werk ist freilich ein Panoptikum, das am Stück zu lesen schwer fallen dürfte. Nicht einmal eine wirkliche Chronologie ist gegeben, da es sich, laut Nachwort, nicht um eine Art Tagebuch, sondern um später aufgezeichnete Erinnerungen handelt. Die sinnlos beifallheischende Werbung an eine buchfern vorgestellte Internetgeneration, Shōnagon sei die erste „Bloggerin“ gewesen, hätte der Verlag sich entsprechend sparen können. Das Kopfkissenbuch taugt wunderbar zur Lektüre jeweils einiger Seiten in stillen Stunden, an einem atmosphärisch passenden Platz.

Stark ist auch das Nachwort, das nicht nur Entstehungszeit und Autoren so, weil sie ergeben vorstellt, sondern auch einige Fehleinschätzungen zur Niederschrift an, die meine Norton anthology of World Literature noch unkritisch kolportiert, richtig stellt. Auch optisch gefallen das handliche Format und der schicke, dennoch schlichte Umschlag, der die Haltung des Textes ins Äußere spiegelt. Ein literarisches Gesamtkunstwerk…

… naja, wäre da eben nicht dieser Unsinn von der „ersten Bloggerin“ der Weltliteratur auf dem Buchrücken. Muss so ein Werbeunfug denn unbedingt sein?

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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