Zu wild und zu zahm zugleich: Ein Roman gegen sich selbst
Regisseur Guillermo Arriaga hat mit „Der Wilde“ einen umfangreichen Roman vorgelegt. Der zeigt ausgerechnet Schwächen im Bereich der Regiearbeit oder Komposition. Eine Kritik von Sören Heim
Lateinamerikanischer Literatur haftet der Ruf an, vielstimmig, wild, überbordend, chaotisch zu zu sein. Ein Verständnis, das sich aus oberflächlicher Lektüre einiger Meisterwerke führender Autoren speist, bei dem verdrängt wird, dass nicht das Chaos selbst, sondern die Beherrschung des Chaos das Werk groß macht.
Das Klischee über lateinamerikanische Literatur scheint aber auch Autoren zu verführen. Was „Magischer Realismus“ getauft wurde, auch wo der magische Aspekt ganz aus dem Text gestrichen wurde, scheint es zu erlauben, mit relativ wenig Zurückhaltung und Selbstkontrolle einfach darauf los zuschreiben, das Chaos am Ende sogar als Feature zu verkaufen.
So viel Handlung!
So wirkt denn auch der im Oktober erschienene Roman Der Wilde von Erfolgsregisseur Guillermo Arriaga , der zudem die Entschuldigung für Schwächen bei der Form gleich noch mit in den Titel gepackt hat. Der Roman ist durchaus nicht uninteressant und höchstens zur Hälfte langweilig. Es passiert unglaublich viel: Ein junger Bewohner von Mexiko-Stadt verliert seine ganze Familie. Der Bruder wird von einer jungen katholischen Gang, die im Viertel „für Ordnung“ sorgt, umgebracht. Zuvor hatte der erst mit Chinchillafellen, dann mit Morphium und LSD gehandelt. Die Eltern verunglücken mit dem Auto, der Protagonist hat schon vor der Geburt seinen Zwillingsbruder verloren. Die Gedanken an das Schwimmen im Fruchtwasser mit dem toten Fötus folgen ihm sein ganzes junges Leben. Er selbst schleicht sich in die Katholiken-Gang ein und verantwortet auch noch den Tod des Bruders. Und seine Geliebte, ein „Free-Spirit“, die über all das Elend ein wenig hinweg helfen soll, war nicht nur mit dem Bruder, sondern mit zahlreichen weiteren Männern im Bett und hat außerdem ein Kind vom Bruder abgetrieben. Außerdem zähmt der Protagonist im Erdgeschoss einen Wolf…
Schon die Masse der Geschehnisse legt nahe, dass es einen großen Meister braucht, um diesem Text Struktur zu verleihen. Arriaga ist kein solcher Meister. Er erzählt Der Wilde auf die verschachteltst mögliche Weise. Was geschehen ist dürfte größtenteils nach etwa einem Drittel des Buches bekannt sein. Das wilde Hin und Her zwischen den Strängen erfolgt absolut unmotiviert, alle paar Seiten wird ein neues Fass aufgemacht oder zu einem alten zurückgekehrt (Apropos Fass: Der Bruder stirbt in einem solchen). Dazwischen geschaltet sind ungereimte Gedichte, die das Elend des Protagonisten aus dessen Sicht reflektieren, Listen, eine „Etymologie des Elends“ und vieles mehr. Zusätzlich parallel läuft noch die Geschichte der Jagd des Inuit Amaruq nach dem legendären Wolf Nujuaqtutuq, der, wie sich herausstellt, Vorfahre des Wolfes sein soll, den der Protagonist zähmt.
Schwächere Einzelerzählungen
Zudem sind die einzelnen Geschichten trotz all der Drastik für sich teils nicht sonderlich spannend. Bestes Beispiel: Die Erzählung von Amaruq. Wie die ausgeht weiß man früh, Spannung aufs Ende fällt also schon mal aus. Doch auch geistige innere Spannung, wie sie ähnliche Geschichten (Moby Dick als großes Vorbild) erzeugen konnten, kommt kaum auf. Zu sehr merkt man der Geschichte an, dass sie als Parallele zum Kampf des Protagonisten gedacht ist, zu monoton bleibt sie.
Als sei das nicht genug, wirkt auch das Mexico-City von Der Wilde relativ leblos, wie eine Kulisse für die gewaltvolle Handlung, die kaum von mehr Figuren bevölkert wird, als es braucht, die Geschichte abzuspulen. Das mag auch mit der sprachlichen Gestaltung zu tun haben: Wie viel lebendiger etwa das Mexiko aus Die Wilden Detektive Roberto Bolanos, obwohl der Roman, was die Kontrolle über den Stoff betrifft, doch einige Probleme mit Der Wilde teilt.
Vorgeschobene Unbezähmbarkeit?
Der Wilde ist nicht gänzlich unlesenswert, die Thematik an sich trägt schon halbwegs durch das Buch. Ein zweites Mal lesen wird man den Roman aber kaum wollen. Einem weniger bekannten Autor hätte man den Text vielleicht auf ein höheres Niveau zurechtlektoriert. So aber bleibt der Eindruck eines Chaos, das von seinem Schöpfer nicht annähernd beherrscht wird. Eine beliebte Ausrede für diese Art von ungefiltertem Naturalismus: Genauso sei eben die Welt. Und Der Wilde unterstreicht das noch, indem er von Versuchen erzählt, das Unbezähmbare zu zähmen. Dieser Text, scheint der Roman zu sagen, ist eben auch so ein Unbezähmbarer. Pustekuchen. Von morgens bis abends mit einer Kamera durch die Welt zu laufen macht noch keinen guten Film. Das dürfte ein Regisseur vom Format Arriagas wissen. Und: Natürlich ist das Chaos von Der Wilde fingiert. Der Unterschied zwischen einem großen Roman wie Gespräch in der „Kathedrale“ oder 2666 und Der Wilde bemisst sich darin, wie sehr sich das fingierte Chaos zu einem trotzdem ästhetisch ansprechenden Ganzen fügt.
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