Auf dem Nachttisch – Entsetzen und Entzücken
Wolfgang Brosche stellt zwei Autoren vor, die gegensätzlicher nicht scheinen können: den Romancier Édouard Louis und den Lyriker Hellmuth Opitz – und erzählt was sie dennoch gemeinsam haben.
Was für ein grandioses Buch! Aber nein, was für ein entsetzliches Buch! Nein, auch nicht: was für ein entsetzlich grandioses Buch – ach, ich muß es Euch erklären…
So entsetzlich, daß ich´s nicht schaffte, obwohl es nicht lang ist, es in einem Zug auszulesen. Immer wieder mußte ich „Im Herzen der Gewalt“ beiseite legen, weil es mich fertig machte, weil es mir grandios zu nahe ging.
Beim zweiten Male begann ich es laut zu lesen – um Melodie und Rhythmus zu hören und mitzuempfinden, denn beides hat das Buch auf frappante Weise – und ich, der ich ein professioneller Laut-Leser bin, ein geübter Sprecher, der einen Stummfilm sprechen könnte, versprach mich dauernd, verhaspelte mich, meine Stimme überschlug und mein Mund formte die Worte nicht… bis ich begriff: das ist so geschrieben, schon im französischen Original – das Hinrich Schmidt-Henkel so berückend übersetzt hat. Ja, Édouard Louis hat das Stolpern und Stocken, das Gehetztwerden der Stimme und ihren Verlust mit eingeschrieben.
Édouard Louis, diese junge Canaille der Ehrlichkeit, der bei all der Scham, die ihn überwältigt, fähig ist zur Schamlosigkeit, der sich ganz zeigt, bis in seine letzten Herzfibern. Er ist zum Anbeten, dieser Mistkerl – ich möchte so schreiben können wie er!
But to begin with the beginning…
Édouard ist besessen davon, sich zu reinigen, seine Kleidung, seine Bettwäsche, seine Möbel, seine Bücher, sogar die Lamellen seiner Jalousien – aber es nutzt nichts. Er fühlt sich immer beschmutzt und hat den Geruch der Vergewaltigung beständig in der Nase, aber der kommt nicht von draußen, der sitzt drinnen in ihm, im wirren Kopf und im zerrissenen Herzen, ebenso tief eingedrungen wie die Angst, daß sein Vergewaltiger, der unbehelligt entkam, ihm an jeder Ecke auflauern könnte. Édouard sitzt im Gefängnis seiner Scham und seiner Angst.
Éduard Louis, der gerade mal fünfundzwanzigjährige französische Schriftsteller, der vor zwei Jahren mit seinem autobiographischen Roman „Das Ende von Eddy“ zurecht Furore machte, übertrifft den Erstling mit seinem zweiten autobiographischen Buch. Noch ehrlicher über sich selbst kann man nicht sein; er selbst ist vor einem Jahr in seiner Pariser Studentenwohnung von einem Nordafrikaner vergewaltigt worden.
Und er beginnt seine Erzählung mit den zwanghaften Säuberungsritualen, von denen auch vergewaltigte Frauen berichten – dem Versuch die erniedrigende Beschmutzung, die Verwüstung des Ichs abzuwaschen, so als könnte man den Raub an Körper und Gefühl durch tatsächliche und rituelle Reinigung von sich abstreifen. Aber all das Kratzen, Reiben, Schrubben nützt nichts, auch wenn er sich noch so sehr scheuert und gar ausbeizt, diese Beschmutzung durch Gewalt ist in alle Kapillare des Körpers eingedrungen. Louis läßt uns das Feinverästelte der Gewalt mit jedem Satz spüren und damit die Wahrheit des Schmerzes. Eine Wahrheit, die wir schon immer vermieden haben. Eine Wahrheit, die vernichtet werden soll in einer Zeit neuer Grobschlächtigkeit. Das Mitempfinden mit jenen, die nach Beachtung ihres Schmerzes schreien, wird mit unendlicher Gefühllosigkeit auf den „Müllhaufen der Geschichte“ geworfen, weil man noch rücksichtsloser und mit Genuß weitere Schmerzen zufügen will…
Louis zitiert zum Schluß seines Buches Imre Kertész, um ganz klar zu machen, warum er so offen über sein Erleben schreiben mußte:
Es zeigte sich, daß ich nicht schreibe, um Freude zu finden, sondern daß ich, im Gegenteil, mit meinem Schreiben den Schmerz suche, den größtmöglichen, beinahe schon unerträglichen Schmerz (…) denn der Schmerz ist die Wahrheit, auf die Frage jedoch, was Wahrheit ist, schrieb ich, gibt es eine sehr einfache Antwort: Wahrheit ist das, was mich verzehrt.
Es gibt ungezählte Geschichten über sexuelle Gewalt – und es ist notwendig sie zu erzählen. Ich kenne bisher keine, die so tief ins Grauen des entleerten, ausgekratzten Ichs führt, die so sehr spürbar macht, wie es ist, wenn man den Boden unter den Füßen, die Leichtigkeit der Hoffnung und jede Sicherheit des Lebens verliert.
In diesem persönlichen Moment, Opfer eines seelenvernichtenden Verbrechens zu werden, entdeckt Louis aber auch die momentane Zerrissenheit des saturierten Europas, denn der Vergewaltiger ist ein Kabyle, wenn auch in Paris geboren. Die ganze Widersprüchlichkeit zwischen Begehren und Fremdheit, körperlicher Intimität und Projektion von/aus Angst und Gewalt auf andere grundiert dieses Buch.
Da ist die Anziehung der beiden Männer, denn sie schlafen zunächst miteinander, eine spielerische Annäherung bei einer zufälligen Begegnung, die sich steigert zu wortloser Lust. Und da sind die Worte, zu denen sie tastend zwischen den Orgasmen finden, um vom Leben des Anderen zu erfahren. Da ist aber auch das Gefälle der Fremdheit, das Klassen-Gefälle, immer auch ein sexuell-emotionales, zwischen dem jungen Mann, der dem familiären Proletariat entkommen und eine akademische Zukunft zu haben scheint und dem Chancenlosen aus dem Banlieu, der sexuelles Begehren empfindet, das in seinem Kulturkries eine Schande ist und Begehren empfindet für die Reichtümer oder vermeintlichen Reichtümer von Édouard, dessen Laptop und Handy. Und so wie der – ich muß das Wort in Anführungszeichen setzen – „der Täter“ sich durch Diebstahl Gegenstände der Überlegenheit zueigen macht, will er sich auch durch die Vergewaltigung den anscheinend überlegenen Körper des schönen, blonden, weißen, hoffungsvollen Franzosen aneignen.
Es ist gleichsam das Lebensgefälle zwischen beiden, das zu dieser Tat führt…Édouard verachtet zurecht seinen Vergewaltiger, aber mißtraut inzwischen sich selbst auch auf vielfältige Weise, hat er sich doch für tolerant gehalten und verdächtigt fortan pauschal algerische und arabische Muslime.
Auch der Täter erschrickt über sich, denn er will seinem Opfer helfen, ihn verbinden, säubern, kehrt zurück und fleht an der Tür um Verzeihen und beraubt Édouard dennoch. Das entschuldigt keineswegs das Verbrechen – aber macht es zum Nukleus unserer gesellschaftlichen Befindlichkeiten am Beginn des 21.Jahrhunderts: Gewißheiten lösen sich auf, Gegensätze prallen nackter aufeinander, noch immer kolonial-rassistische Klassengegensätze, die sich fortsetzen in sexuellen und materiellen Konflikten, in Ängsten und Phantasien. Darum geht es bei den Kämpfen der neuen Faschisten in ganz Europa, weil sie ihrer Privilegien als Bevorzugte verlustig gehen. Und diese bittere Wahrheit zeigt sich selbst im aktuellen Tafelstreit: es wird nicht die Armut bekämpft, sondern die Armen bekämpfen einander, während die Wohltätigen ihr Vergnügen daran haben. Denn Wohltätigkeit bereitet genauso Vergnügen wie das Aufeinandereinschlagen der Mittellosen.
Aber zurück zur Hauptsache – Louis doziert nicht in einer Zeile. Er präsentiert die überwältigenden Dimensionen seines zunächst nur persönlich scheinenden Schmerzes in verschiedenen Perspektiven. Er beschreibt Angst, Haß, Panik, Wut und was sie mit ihm machen, wie er noch haltloser und verzweifelter wird, als er schon ist – und das Entsetzen über Vergewaltiger, Vergewaltigung und Gewalt ist genauso groß ist wie sein Entsetzen über seine eigenen Veränderungen.
Diese Komplexität darzustellen, gelingt ihm durch drei parallele Erzählstränge: er erzählt von der Entwürdigung auf der Polizeiwache und im rechtsmedizinischen Institut, wo er untersucht wird, erzählt wie er dort immer und immer wieder gezwungen wird neu zu erzählen, was ihm geschehen ist, wie Arzt und Instrumente in seinen Körper eindringen auf ähnliche Weise wie sein Vergewaltiger.
Er nimmt einen zweiten, distanzierenden Standpunkt ein – indem er seine Schwester, zu der er in die Provinz geflüchtet ist, ihrem Mann erzählen läßt was der Bruder berichtet hat und antizipiert auch die Veränderungen, die sie an seiner Geschichte vornimmt.
Und dann gibt es noch, uns Lesern am nächsten, den ganz stillen Icherzähler, der mit mutiger Genauigkeit, mit der Anmut der Verzweifelung sein Erleben schildert.
Wie der nicht mal 25jährige Autor mit größter Souveränität und ebenso großem Gestaltungs-und Sprachvermögen aus seinem persönlichen Erleben mehr macht als bloß einen Bericht über die Erniedrigungen der Vergewaltigung, sondern auch eine Analyse von Sattheit und Ratlosigkeit unserer spätkapitalistischen oberflächlichen Gefühllosigkeit, hinter der Gewalt und Verzweifelung zutage treten, das macht „Im Herzen der Gewalt“ zu einem zugleich grandiosen und weil so wahren auch entsetzlichen Buch.
Daß der deutsche Titel an eine Gemme der europäischen Literatur erinnert, ist nicht zufällig, denn das „Herz der Finsternis“ schlägt sei je im Gleichklang mit dem „Herzen der Gewalt“.
And now to something completely different…
…vom Entsetzen zum Entzücken, das die Leser beim Gedichtband „In diesen leuchtenden Bernsteinmomenten“ von Hellmuth Opitz ergreift. Das ist doch ganz etwas andere als das erhellende Entsetzen bei Édouard Louis. Aber es gibt Geschwisterliches…und zwar in der Virtuosität der Autoren.
Zwar scheinen Roman und Lyrik, das Sujet des einen und das Thema des anderen, Welten voneinander entfernt, auch ist Hellmuth Opitz ein doppelt so alter Autor mit einer entsprechend längeren Erfahrung als Schriftsteller. Zwar schreibt der eine über „grave matters“, die das Herz brechen lassen und der andere heiter über…ja eigentlich genau das Gleiche, eben auch über Herzen, die gebrochen sein können aus noch ganz anderen Gründen. Beide Schriftsteller arbeiten mit verwandter Präzision, gleichem Geschick und persönlichstem Stilwillen. Der eine ist so überwältigt von seiner Wahrheit, daß er sie mit einer berührenden Schamlosigkeit präsentiert, der andere präsentiert seine Wahrheit mit einer ebenso berührenden Heiterkeit, hinter der eben doch Anflüge von Trauer hervorlugen. Aber nur sichtbar für die Anteil nehmenden Leser .
Warum ist Hellmuth Opitz nicht so bekannt wie, sagen wir Durs Grünbein – sollte er nämlich, denn er bedient sich auch klassischer Mittel, aber wie aus einem Tuschkasten der Leichtigkeit. Und dazu noch ist er Gott sei Dank kein Literaturwissenschaftler, macht also Lyrik aus dem Leben und nicht aus Literatur. Aber in Deutschland zieht man Ölgemälde immer den Aquarellen vor, auch wenn es um Lyrik geht. Opitz reimt, alliteriert, sonnettiert ohne jeden Anflug des Akademischen, das sich selbst vorführt. Er ist ein poetischer Artist…und das ist nichts Geringes, im Gegenteil; denn auch beim poetischen Salto Mortale riskiert man sein Leben. Er beherrscht mehr als sein Handwerk: das präzise Jonglieren mit der Sprache, hat die Fähigkeit wie mit linker Hand Effekte zu setzen, Höhepunkte hinauszuzögern, die charmante Täuschung überraschend einzusetzen ohne zu betrügen. Denn am Schluß stellen wir fest: „das ist ja noch besser als das, was wir erwartet haben. Er ist ein Zauberkünstler; wie er´s gemacht hat, kann man nur schwer erraten. Ich verrat es auch nicht, denn das gehört sich nicht!
Der Titel seines jüngsten, des fünften Gedichtbandes klingt zunächst einmal ein wenig nach Rosamunde Pilcher: „In diesen leuchtenden Bernsteinmomenten“.
Gottchen, dachte ich, als ich das las – was ist denn mit ihm passiert diesem flamboyanten Ironiker…der wird doch nicht den Schmalzpott der Sentimentalität aus dem Regal ziehen. Ich bitte um Verzeihung, daß ich mich überhaupt zu solchen Vermutungen verirren konnte; das ist auch so eine gewitzte Täuschung, die uns Staunen macht. Ich schwöre auf „Forever Amber“, Opitz führt uns damit in die erhellende Irre. Sein Tropfen Bernstein ist die heiter-erheiternde Melancholie – ja, das gibt`s. Was da für immer festgehalten wird in Opitz Sprachbernstein, sind die gewichtigen weil flüchtigen Dinge: „die dickflüssigen Sommernachmittage“ der Pubertätszeit, die „überm Nabel verknotete“ Bluse der Mutter eines Freundes, die Limonade serviert, ihre Stimme und damit der erste irritierende Anflug des erotischen Begehrens, das noch keinen Namen hat.
Jahrtausende später
Wird man uns finden,
gefangen in solchen Bernsteinmomenten,
winzige Einschlüsse: du, ich,
deine Mutter und der Durst,
den nie ein Getränk zu löschen vermochte.
Das Vergehen der Zeit, die Trübsal darüber und die Lust wenn man sie erlebt, das langsame Erwachen aus dem Schlummer Kindlichkeit und die gerührte Verwunderung darüber, daß es einmal, vor langer Zeit, noch keinen Zynismus gab, nur Unmittelbarkeit – es sind nicht die lauten Momente, sondern die Leisen – aber so wie sich von einem Wassertropfen auf das Meer schließen läßt, verweisen alle kleinen Momente von Helmuth Opitz auf das Ganze, das Leben, was sonst. – Wer darüber nicht entzückt ist, der hat diese Gedichte nicht verdient.
Da spielt einer mit dem Ernst, völlig unfrevelhaft, und zaubert uns ein Schmunzeln der Einsicht ins Gesicht und läßt uns wieder verblüfft zurück.
Versetz dich ruhig in eines Würfelzuckers Seele,
denn er steht hier nur beispielhaft für viele Namen,
die kleinen Tödlichkeiten, täglich stillen Dramen.
Da greift man sich doch unwillkürlich an die Kehle.
Und manchmal führt Hellmuth Opitz eine zauberische Wortescamotage aus, holt aus der Luft ein Bild, um es fingerfertig gegen ein anderes auszutauschen.
Ich jedenfalls hab bei dieser charmanten Band aus dem lyrischen Herzen eines Meisters ein knuspriges Entzücken verspürt – und zwar auf scrabblehafte Weise so – Laut lesen und das „u“ in Russisch langziehen und gaaanz dunkel betonen:
Komm, leg an mit mir
Buchstab um Buchstab,
bauen wir weiter
an dieser Liebes
Erklärung auf Russisch
Brot.
Édouard Louis, Im Herzen der Gewalt. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main
Hellmuth Opitz, In diesen leuchtenden Bernsteinmomenten. Pendragon Verlag Bielefeld
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