Zeit für einen neuen „Epochenroman“?
Aus einem Gespräch zwischen den Jahren entwickelt Literaturkolumnist Sören Heim seine Gedanken zum „Epochenroman“. Was macht ihn aus? Kann man ihn planen?
Zwischen den Jahren sprach ich mit einem Freund über die großen Romane ihrer jeweiligen Epochen. Texte, die ihre Zeit ganz zu fassen versuchen. Im folgenden „Epochenromane“. Es wäre mal wieder Zeit für einen, so der Freund. Nicht nur gefühlt sei die Zeit reif: Weltwirtschaftskrise, langsamer Abschied der USA als Führungsmacht, Terror. Aber auch: Menschen, die aneinander vorbei auf Smartphones starren, Isolation in der globalen Vernetzung, Internetpranger, Empörungskultur. Die Zeit habe ihre dankbaren Themen und Bilder, in denen sie sich konkretisieren lasse.
So weit, so wahr. Und die Epochenromane sind doch die Werke, die – ob nun gelungen oder nicht – in den Kanon eingehen. Die, die man auch in 100 Jahren noch lesen werde. Also los!
Von welchen Texten reden wir eigentlich?
Gemach! Was waren denn die letzten derart epochalen Werke? Man müsse wohl bis zu Thomas Mann zurück, so mein Gesprächspartner. Der Zauberberg für den ersten, Doktor Faustus für den Zweiten Weltkrieg. Vielleicht noch, gab ich zu bedenken: Die Blechtrommel, Lenz‘ Deutschstunde? Die mögen ästhetisch eher durchwachsen sein, doch jeder Zeit den Roman, den sie verdient. Aber den Epochenroman wird man nicht mehr auf einen bloß Nationalen begrenzen können. Allein der Nationalsozialismus ermöglichte es ja, die oben Genannten tatsächlich auch thematisch als Romane von Weltgeltung anzusehen. Das Werk, auf das man sich für die auf den 2. Weltkrieg nachfolgende Periode dürfte einigen können ist wohl Die Satanischen Verse: Islamismus, postkoloniale Heimatlosigkeit, Flucht, Vertreibung, Zerfall der Linken, Auswirkungen des Neoliberalismus → Flucht vor der Ellenbogengesellschaft in Familie, Bande, Rackett. Dieser Roman verhandelt, was heute noch die Welt bewegt und, nebenbei: So ganz durch die erzählten Geschichten hindurch, dass es nie wirkt als wollte der Text krampfhaft bedeutend sein. Nur so dürfte ein sogenannter Epochenroman überhaupt gelingen: Indem man sich nicht hinsetzt und krampfhaft versucht ihn zu schreiben. Auch Mann behandelte ja nach den Buddenbrooks meist eher was Abseitiges; und die Zeit schwingt eben so mit. Nix mit „Los!“
Ohne Vollständigkeitsanspruch und Qualitätsurteil liste ich hier weitere jüngere Texte auf, die den Anspruch erheben könnten, die Welt oder zumindest einen relevanten Ausschnitt zu erzählen: The Corrections (Franzen), White Teeth und folgende (Smith), Terrorist (Updike), Die Hauptstadt (Menasse), Das Ministerium des äußersten Glücks (Roy), mehrere Werke Toni Morrisons. Alles Titel, über die man wird streiten können, und selbst die jüngsten tappen am Internetzeitalter eher so halb blind vorbei oder stolpern hindurch wie ein betrunkener Mittsiebziger, der am Weihnachtsabend von den Kids jetzt aber endlich mal „Sürfen“ lernen möchte.
Das Dilemma der Weltgeltung
Ich denke, das stößt uns auf ein paar generelle Probleme mit dem Traum vom Epochenroman. Wir sahen oben: Die Größten entstanden vielleicht als Nebenprodukt einer faszinierenden Geschichte oder eines Gedankenspiels und bewiesen rückblickend ihre Geltung. Schon immer war das Problem zu lösen, wie Weltgeltung und Lokalität auszutarieren sind. Nur gewisse historische Ereignisse vermögen das momentan einmal aufzuheben. Und wenn die Weltgeltung thematisch und nicht ästhetische realisiert werden soll, kann der große Roman unserer Zeit eigentlich nur inter-/transnational sein. International erzählt es sich aber schwierig – die Handlung droht zu zerfasern.
Es lassen sich ein paar Techniken identifizieren, mit denen versucht wird, dem Dilemma beizukommen.
– Da ist einmal das Revival der regionalistischen bis dörflichen Literatur, die versucht, allgemeine Widersprüche des gesellschaftlichen Lebens auf engstem Raum auszutragen. So sind einige der beachtlichsten Texte der Weltliteratur entstanden, gerade die jüngsten, besonders auf Relevanz gebürsteten lassen aber zu wünschen übrig. Je mehr an nationalen und internationalen Konflikten ins Dorf projiziert wird, desto schematischer, kammerspielartiger liest sich auf das Ganze. Positivbeispiele: Mahfus Midaqgasse, Roys Der Gott der Kleinen Dinge. Negativbeispiele im Deutschsprachigen Raum: Menasses Hauptstadt, Zehs Unter Leuten.
– Dann sind da die weit aufgefächerten Titel. Jet-Set-Romane oder anders gelagerte Plots, die Protagonisten um den halben Erdball jagen, immer dorthin, wo gerade die Action tobt. Das zeitigte allein im deutschsprachigen Raum zuletzt einige beachtenswerte Ergebnisse. Ich habe hier Fatma Aydemirs Ellenbogen und Shida Bazyars Nachts ist es leise in Teheran besprochen. Solche Romane laufen allerdings schnell Gefahr, in einer Weise zu zersplittern, die die Einheit des Werks aus den Augen verlieren lässt. So faszinierend es ist, sich durch die Textkompositionen Pynchons zu arbeiten – nach V und Gravity’s Rainbow ist es diesem Autor jedoch bis heute nicht mehr gelungen die wilden Schauplatzsprünge seiner weltumspannenden Handlungen nochmal wirklich überzeugend zu verweben.
– Ein noch immer fast hypothetischer dritter Fall wäre der an verschiedenen Schauplätzen spielende Roman, der die moderne Kommunikationstechnologie nutzt, um die Einheit herzustellen. Mir fällt kein Beispiel ein, das ich dahingehend bisher lobend hervorheben könnte. Das mag einen durchaus lebenspraktischen Grund haben: Das Internet für alle ist immer noch jung, und die, die gerne darüber schreiben würden, schauen oft despektierlich auf die neuen Gewohnheiten herab. Die aber, die diesen Lifestyle leben, schreiben nicht darüber. Manch einer bezweifelt, dass sie überhaupt noch schreiben können.
Auch möglich: bestimmte Aspekte der (sogenannten, dysfunktionalen) Kommunikationsgesellschaft lassen sich tatsächlich besser in filmischen Formaten greifen.
Abstraktion als Schlüssel?
Wer meine Texte hier kennt und vielleicht auch einige eigene literarische Arbeiten, wird gemerkt haben, dass ich bis hier fast durchgehend dem (von mir nochmal aus dramaturgischen Gründen zugespitzten) Paradigma meines Gesprächspartners gefolgt bin: Dass der für eine Zeit relevante Roman in beträchtlichem Maße für diese Zeit relevante Themen und Phänomene aufzugreifen habe und man als Schriftsteller gewissermaßen „über“ diese Dinge schreibe. „Schreib doch mal über…“ ist die vulgärere Formulierung dieser Auffassung, wann immer jemand meint, dem abgehobenen Autoren jetzt aber mal wirklich das perfekte bodenständige Thema ausgegraben zu haben, mit dem der Erfolg bei den Massen gesichert sei. Ich denke, dieses Paradigma war schon immer falsch, doch ist es das heute vielleicht mehr denn je. Wilhelm Meister machte Epoche, und lässt sich nicht mal halbwegs vernünftig auf eine erzählte Epoche festlegen. Der Zauberberg führt wie gesagt Aussteiger an einem der entrücktest denkbaren Orte zusammen. Hundert Jahre Einsamkeit dürfte der Epochenroman Kolumbiens, wenn nicht des lateinamerikanischen Kontinents sein, und spielt in einem von einer Traumlogik regierten Dorf ohne genauere geographische oder zeitliche Verortung. Was, wenn diese Entrückung kein Zufall ist: Wenn die globale ausdifferenzierte Gesellschaft nur noch in dieser abstrahierenden Weise, oder zumindest auf diese Weise besonders prägnant zu greifen ist? Das Fantastische nichts als ein Fluchtpunkt in spekulative Zukünfte oder verklärte Vergangenheiten, sondern als intuitiver Modus des Begreifens von Aktuellem. Das nun durch zu theoretisieren, dürfte weniger fruchtbar sein, als ganz praktisch mit einem Literaturhinweis zu schließen:
Lewis Carrol und William Gibson
Zwei Romane fielen mir auf dem Heimweg von unserem Literaturgespräch durch grau-feuchte Winterstraßen, vorbei an den schon wieder unzeitgemäßen Weihnachtsmarktbuden, spontan ein, die zwar nicht die Ereignisse des letzten gut halben Jahrzehnts, aber doch die Kommunikation und das Lebensgefühl für mich sehr überzeugend vermitteln. Beide sind erschreckend alt und erschreckend gut gealtert.
Zuerst: Alice im Wunderland. Ist nicht die Art und Weise, wie die Einwohner des Wunderlandes regelmäßig aneinander und an Alice vorbeireden, wie sich an einem semantischen Nebenaspekt der Rede aufgehängt wird und immer wieder dem Gegenüber erklärt wird, was ihn eigentlich zu interessieren habe oder sie eigentlich zu fragen habe, in unheimlicher Weise der Form verwandt, in der heute Diskussionen online verlaufen? Erinnert die Teestunde beim Märzhasen nicht an manch smartphonegestörtes Familienessen? Sind der Löwe und das Einhorn nicht noch immer am kämpfen? Und das wunderbar zeitlose Caucus-Race (man übersetzt auf Deutsch wohl Proporzrennen, treffender wäre Wahlkampf) – es scheint gar nicht mehr enden zu wollen.
Regeln gibt es viele, durchsichtig sind sie kaum, und wie im Wunderland sind die meisten Menschen einander nur Mittel zum Zweck. Nur ganz so witzig ist das Heute bisher nicht, doch dagegen kämpft nun erfolgreich der Präsident der Vereinigten Staaten an. Was zu Carrols Zeiten wohl eher eine kleine gebildete Oberschicht amüsiert haben dürfte, ist heute eine Geschichte für die Massen, die gerade erst wirklich aktuell zu werden scheint.
Dann: William Gibsons Neuromancer sowie ergänzend die Bridge-Trilogie. Hier kommt die Einzelkämpferideologie voll zum Tragen, nach der das Individuum nur noch Unternehmer seiner selbst sei, und wer dabei verrecke, ist eben zu schwach. Das damals nur prognostizierte Internet erweckt Gibson anschaulich als erlebbaren Raum, gleichzeitig als Verlängerung der realen Welt, als den Ort, an dem die Kämpfe erst so richtig handfest werden. Der Arm des Gesetzes ist kurz, doch mächtige Interessensgruppen und Unternehmen können sehr aktiv darin sein, unliebsame Nutzer des Cyberspace abzuschalten – ganz ohne Prozess. Klingt das bekannt? Selbst die Doppelbödigkeit der sogenannten „Kommunikationsgesellschaft“ wird von Gibson überzeugend antizipiert: Besonders in Virtual Light und Idoru wird die Tendenz zahlreicher, meist peripherer, Mitglieder der Gesellschaft, sich zu isolieren, aus dem Kampf ums Dasein auszusteigen, oder sich auf Familie und Scholle zu besinnen, explizit thematisiert. Auch das Revival des Religiösen gerät in den Fokus, wenn auch vornehmlich anhand einer Techno-Pharmazeutischen Neureligion, die den ersten Patienten verehrt, aus dessen Blut wirksame HIV-Antikörper isoliert werden konnten.
Schreib einfach!
Daraus möchte ich nun nicht folgern, dass zukünftige epochale Romane zwingend mit Sci-Fi/Fantasy-Elementen ausgestattet sein müssen. Auch wenn sich das als ein wirksamer Weg erwiesen hat, relativ abstrakte, schwer zu versprachlichende Zeitphänomene intuitiv greifbar zu machen. Die Folgerung ist einfacher: Man schreibe den Text, den man gerade für richtig hält. Den man ästhetisch konsequent, auf seine künstlerische Wirkung hin durchzugestalten sich fähig glaubt. Salopp gesagt: Eine gute Geschichte. Die Welt drängt sich sowieso auf. Aus den abseitigsten Szenarien kann man sie ja doch nicht raus halten. Und wenn man dann heutige Kommunikationsformen im Wunderland findet oder den Einzelkämpfer-Unternehmer im Sprawl fällt vielleicht auf, dass nicht selten die technische Oberfläche, an der sich Zeitgeistprobleme präsentieren, tatsächlich vor allem das ist: Oberfläche.
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