Der Feind ist mitten unter euch!
Sören Heim räumt auf mit Vorurteilen gegen moderne Lyrik & verwehrt sich dennoch gegen die Feier des Formlosen.
Tatsächlich gibt es ja praktisch keine (neue) nicht moderne Lyrik mehr (das Argument lässt sich natürlich auf alle Sparten der Kunst ausdehnen). Es gibt gute (selten) und beschissene moderne Lyrik (denn mittelmäßige Kunst ist ein Ding der Unmöglichkeit), durch die Brüche unserer Zeit hindurch müssen sie alle. Was Hegel über Gessners Idyllen sagt, gilt für die Kunst im Ganzen: Kein Stück, das nicht im innersten an seine Zeit und Welt gebunden wäre.
Noch das reaktionärste Werk ist gewissermaßen modern, entspringt der bewussten Entscheidung, all die „moderne Mätzchen“ nicht mitzumachen, und ist so gerade keine sicher in ihrer Tradition ruhende Kunst.
Moderne Sonette, zum Beispiel. Oder Frau Werding
Selbst das klassischste Sonnet, so es nicht schon dadurch als modernes kenntlich wird, dass es Themen versonnetiert, die Petrarca wie noch Mörike mit spitzen Fingern nicht angefasst hätten, hat die Sonnetform aus sich selbst heraus, autonom, zu begründen. „Das ist ein Liebesgedicht, das schreibt man halt so“, gilt nicht mehr. MAN schreibt so eben gerade nicht mehr.
„Ein Werk, aus nichts begründet als aus seiner eigenen Dynamik“ – das dürfte genau die kürzeste, so wertungs- wie zugegeben hilflose als auch treffende Beschreibung der Herausforderung moderner Kunst sein. Übrigens wird selbst der Schlager heute ganz selbstverständlich von modernen Verfahrensweisen affiziert, wie unter anderem der fragmentarische Eingang des kürzlich vom Kollegen Ulf Kubanke angeführten Werding-Songs „Stimmen im Wind“ belegt:
„Schwarze Vögel,
roter Himmel
Frau am Meer
riecht an Blumen
Aber ihre
Hand ist leer “
Solche Wortfetzen: Residuen einer längst dem Massengeschmack assimilierten Moderne, kaum denkbar im Volkslied des 19. Jahrhunderts.
Die verkopfte Moderne?
So weit meine Überlegungen im Anschluss an eine kleine Lesung, auf der mir eine Kollegin ihre Sorge mitteilte, unter dem Schlagwort „Moderne Lyrik“ sei sie hier eigentlich falsch. Dabei verfasst besagte Autorin deutsche Haikureihen zu allem möglichen, aber sicher nicht den verlangten Jahreszeit-Thematiken, dialogische Streit- und Schreigedichte ohne vermittelndes Dichterwort, Liebessäuseleien, die in hintergründigem Zynismus umgeschlagen, kurz: Lyrik über deren Modernität es sich nicht mal zu streiten lohnt, und Streit lohnt eigentlich fast immer. Auch das despektierliche Wort von der „Proseminarlyrik“ fiel im Zusammenhang mit Modernität auf dieser Lesung (durchaus lobend: wir immerhin hätten keine solche vorgetragen!), ein Wort das zuletzt wie konzertiert unter verschiedenen Rezensionen neuerer Lyrikbände zu lesen war – hat das vielleicht mal wieder irgendein minderer Literaturpapst in den Raum geworfen?
Ist das wirklich das große Problem der literarischen Moderne (es gibt eines, wir kommen dazu)? Verkopftheit? Oder ist am Ende eher der Leser dümmer, nein, fauler geworden?
„Es wird berichtet, Studenten in Oxford hätten [The] Waste Land als Erste laut intoniert, es nachts aus ihren Collegefenstern mit Megafon über die mittelalterlichen Dächer geschrien. Bald schon hatte das sperrige Stück Kultstatus, war Partygespräch und wurde zur heimlichen Liturgie der Intellektuellen“.
Das schrieb vor einigen Jahren Durs Grünbein über das wohl als kompliziertestes geltende moderne Gedicht. Von Schwierigkeiten des Zugangs keine Spur, T.S. Eliots The Wasteland als Partyspaß! Aber gut, das waren Studenten. Doch Allen Ginsbergs großes Poem Howl schaffte es sogar ohne größere Probleme aus den Hörsälen über staubige Straßen in verrauchten Jazzkneipen, Spielhöllen und Bordelle. Oder ging es den entgegengesetzten Weg? Selbst Howl dürften die meisten Leser aber heute unter Proseminarlyrik verbuchen. Dabei ist es ein verdammt einfacher Text. Zu einfach vielleicht, zu viel „he tells it like it is“ bereits, mehr Manifest als Kunstwerk, ein erster großer Kristallisationspunkt des (auch modernen) Gefühls- und Authentizitätsfetisch in der Wortkunst, ein wenig elaborierter Trumpismus von links:
Da gibt es oft wenig herumzudeuten. Von Howl kann man sich überwaschen lassen wie von einer gigantischen Welle und dann sagt man „ja, so ist es“, oder „schwätz nich so n Mist Mann“
Aber ist Eliots Wasteland dagegen wirklich „schwer“? Da werden wir in eine Frühlingsszene geworfen, April, „der grausamste Monat“. Es folgt eine Reise durch Wüsteneien, die nur gedankliche Rückkehr in den Garten, das vorausdeutende Tarrot-Kartenlegen. Einfache, mythisch aufgeladene Bilder, erschließbar für Christen, Esoteriker, Gärtner und Freunde der Roadrunner-Cartoons. Dann Wortgeplätscher in Kneipen, Sex, die Apokalypse. Polyphon, nicht predigend-eindeutig, aber doch einprägsam. Von all diesen Stationen sollte sich berühren lassen können auch, wer keiner einzigen der zahlreichen kulturellen Anspielungen versteht, denen Eliot verfluchter Weise als Fußnotenapparat bald Erklärungen nachgereicht hat. Eine verhängnisvolle Entscheidung, die es der heute geradezu schicken Geistesfeindschaft leicht macht, den Text als verkopft zu denunzieren. Schlimmer, es wird schwierig, ihn wirklich als Textganzes zu erfahren: Wer ständig die Lektüre unterbricht um trockene Anmerkungen zu durchwühlen, wird den rhyithmisch-melodischen Fluss der Sprache dieses außerordentlichen Werkes nicht genießen, ja, nicht einmal bemerken (Man stelle sich vor, Dylan lieferte seine Songs so aus…).
Hören Sie!
Lyrik muss man hören!
Lyrik ist auch fürs Ohr gemacht. Es heißt, die hektische Welt dränge dem modernen Menschen immer kürzere Aufmerksamkeitsspannen auf. Sogar die Augsburger Puppenkiste soll dem zum Opfer gefallen sein. Wie viel Wahres ist daran? Heute werden ganze Symphonie komponiert (Filmmusiksymphonien etwa), die aus platten Klangteppichen bestehen, kaum autonome, geschweige denn polyphone Stimmführung kennen. Das durchzustehen verlangt eigentlich unmenschliche Konzentration – aufs Abwechslungsarme, Banale. Wir bringen die Konzentration auf, über Stunden immergleichem Gedudel zu lauschen. Wie erfrischend sollte es da für den modernen Menschen sein, einmal 20 Minuten durchkomponierter Sprachkunst zu lauschen. Hören Sie sich auch gleich noch Dylan Thomas‘ Fern Hill an:
Thomas ist einer jener modernen Autoren, die beinah ausschließlich über das Ohr sich überhaupt ernsthaft begreifen lassen.
Ist also jegliche Invektive gegen die Moderne einzig ressentimentgeleitet? Nein, nein. Bei weitem nicht. Wie jede künstlerische Entwicklung erstarrte auch diese (sogar im Gros der Fälle) durch Institutionalisierung zum Habitus. Das zeigt sich nirgends deutlicher als in der Unfähigkeit zeitgenössischer (besonders deutscher) Lyrik zur großen Form, deren Perfektionierung doch eigentlich selbst Kind der Moderne war. Doch heutiger Lyrik fällt selten mehr ein als die tumbe Reihenstruktur. Da ist keine übergeordnete formale Vision mehr, nur das lieblose Reihen von Versen oder Fragmenten. Sobald ein Text die gerade noch marktgängigen 20 Zeilen überschreitet, wird addiert, nicht komponiert. Jan Wagner (ich untersuche das hier) reiht mehrere Kapseln seiner erprobten kleinen Formen zu einer großen. Ulla Hahn reiht (und steht damit für das verbreitetste Elend) Eindrücke und Ideen. So mögen hier und da gar noch sprachlich gelungene Passagen entstehen, aber das Ganze wirkt wie ein Haus, an dem einer so lange anbaut, bis er nicht mehr weiter weiß. Einzig W.G. Sebald, großer Prosaist, der viel lyrischen Schrott und zwei Meisterwerke verfasste, Thomas Bernhard und Arno Schmidt dichte(te)n noch anders. Und Celan natürlich. Alle tot. Auch international dominieren neben der kleinen Form die Reihenpredigten, ewig lange Bekenntnislyrik, die Fakten und Meinungen herunterzählt, im besten Fall lose durch einen Refrain gebunden, und über Poetry-Slams maximal Massen – , nein, Markttauglich gemacht. Denn es ist noch nicht einmal zwingend die Masse, die den Verfall der Form begünstigt, es sind der Zwang, allzu rasch über besser und schlechter zu entscheiden, nicht mehr in sich gehen zu können für ein Urteil, und analog dazu die an sich sympathische Reaktion: das Urteil dann eben ganz zu verweigern.
Auch der Pop übrigens reiht, wo er sich an längere Texte wagt, meist, Strophe an Bridge an Strophe an Bridge, bis es einem zum Hals raus hängt. Dann endet man.
Oder: Geschieht uns recht?
Man wird dieser Entwicklung wenig entgegensetzen können, und schon gar keine programmatische Moderne-Schelte, die mit dem Müll auch die notwendige Einsicht wegwischt, dass man über die Welt der Billigflieger, Tinders und der Atombombe nicht mehr schreiben kann wie über das gute alte Weimar abseits aller politischen Großkonflikte. Was man kann ist: Es anders machen. Komponieren wo Andere reihern. Und drauf vertrauen, dass noch selten die Kunst des Zeitgeistes die Kunst einer Zeit blieb. Allein, im Zeitalter atomisierter Vermassung – jeder sein eignes Medium, alle zusammen der „Schwarm“ – könnte das erstmals anders sein. Hier lauert auf das gute Abseitige die Gefahr zwischen all dem schlechten Abseitigen auch für die Zukunft verschütt zu gehen, während der Mainstream mächtig fließt. Jedem seine Stimme, doch am Ende bleibt weißes Rauschen. Und vielleicht ist die gereihte Kunst ja am Ende die adäquate Kunst ihrer Zeit. Soll doch auch das Leben eines sein gereihter Provisorien. Man reiht Stellen und Lebenspartner, das Hohelied des Individuums geht nahtlos über in das von dessen Auflösung: Den Gassenhauer von der totalen Flexibilität. Das Menschen-Ideal ist der Grau-Reiher, ein besonders gehetzter Zugvogel. Und dessen Lyrik: der lustlos plätschernde Bach … ?
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