Weglaufen ≠ Verantwortung übernehmen
Führungsschwäche bei Von der Leyen? Im Gegenteil: Das Hochkochen zahlreicher Skandale heute kann paradoxerweise durchaus ein Beleg dafür sein, dass sich etwas zum Positiven verändert hat. Weil Soldaten sich trauen Verfehlungen öffentlich zu machen.
„Führung fängt oben an.“ Mit diesem wenig sagenden Kalenderspruch versucht man derzeit Ursula von der Leyen den schwarzen Peter für die zahlreichen Bundeswehrskandale, die kürzlich in den Fokus der Berichterstattung gelangten, zuzuschieben. Gern noch mit dem Nachsatz, die Verteidigungsministerin sei eben verantwortlich für das Geschehen in der Truppe und nun soll sie endlich, wie sie angekündigt habe, „Verantwortung übernehmen“. Spätestens in den Leserbriefspalten der Zeitungen bedeutet das dann: Zurücktreten.
Wenn alle zurücktreten würden
Welch himmelschreiender Unsinn. Würden nominell Verantwortliche stets in dieser Weise Verantwortung übernehmen, wäre da bald niemanden mehr, der Verantwortung übernehmen kann. Weil alle Verantwortlichen längst zurückgetreten wären. Von der Leyen hat, insoweit das angesichts einer ihr wohl größtenteils ablehnend gegenüberstehen Führungsriege in der Armee überhaupt gelingen kann, tatsächlich im Sinne der Verantwortung ihres Amtes gehandelt: Indem sie Korpsgeist und Blindheit gegenüber rechtsradikalen Tendenzen kritisierte und weitere Möglichkeiten schaffen möchte, entsprechende Vorfälle jenseits des klassischen Dienstweges zu melden (Ja, beim Wehrbeauftragten ging das schon immer. Aber es braucht ein Klima, in dem sich Soldaten dabei nicht als Verräter fühlen).
Und andere Entgleisungen? In Afghanistan posierten Soldaten 2006 mit Totenschädeln für makabere Bilder. Und in der Freiherr-vom-Stein-Kaserne in Coesfeld stellten Ausbilder 2004 Entführungssituationen mit Stromschlägen und dem Abspritzen mit eiskaltem Wasser nach (…) Bei Gebirgsjägern gab es sadistische Aufnahmerituale wie das Essen von Leber und Rollmöpsen mit Frischhefe – dazu Zwangsbesäufnisse (…) „Aufklären, abstellen und Konsequenzen ziehen.“ Geändert hat sich in mancher Einheit seitdem nichts
kritisiert Hauke Friedrichs in der Zeit. Auch das ist in dieser Pauschalität überzogen. Je besser von der Leyen (zuvor Guttenberg) und weitere Führungskräfte ihrer Verantwortlichkeit nachkommen, umso mehr entsprechende Vorfälle dürften in den kommenden Wochen, Monaten, Jahren an die Öffentlichkeit getragen werden.
Häufige Skandale = Mut zur Beschwerde?
Denn was wir bisher erfahren haben wird nur die Spitze des Eisbergs sein. Vielleicht nicht einmal unbedingt im Bereich Rechtsradikalismus, wo man sich nach meiner Erfahrung bemüht dem Problem Herr zu werden, mit Sicherheit aber in den Bereichen Machtmissbrauch und Mobbing. Ich selbst war gerade mal gut zwei Monate bei der Bundeswehr und habe in dieser Zeit verschiedene Verhaltensweisen von Ausbildern erlebt, die sich, da besonders gegen einzelne Rekruten gerichtet, kaum durch die Notwendigkeit einer harten Ausbildung rechtfertigen lassen. Und auch unter den Auszubildenden schwankte die Stimmung zwischen Ausschlussritualen und heftigen Anwandlungen des kollektiven Schulterschlusses – auch gerade mit dem Aggressor. Wer damals, in den frühen Nuller-Jahren, über eine Beschwerde nachdachte (und das waren viele Grundwehrdienstleistende), dem wurde erklärt, dass die sich unter vollem Namen an den direkten oder dessen Vorgesetzten zu richten habe, was angesichts der Tatsache, dass man voraussichtlich unter dem Objekt der Beschwerde weiter würde zu dienen haben, von jeder Beschwerde absehen ließ.
So könnte das Hochkochen zahlreicher Skandale heute paradoxerweise durchaus ein Beleg dafür sein, dass sich in der Mentalität der Truppe etwas geändert hat. Das Verantwortliche also tatsächlich ihren Aufgaben nachgekommen sind.
Es wird weitergehen
Denn man mache sich nichts vor. Wo man viele Menschen auf engstem Raum zusammensperrt, sei es die Schule, das Flüchtlingslager, das Fusion-Festival oder eben eine Kaserne, wird es zu entsprechenden Vorfällen kommen. Eine Armee, wo das unter verschärften Bedingungen geschieht und man letztlich für den Ernstfall, für das Töten, trainiert, wird Strukturen, die Übergriffe und Mob-Mentalität begünstigen immer wieder vorbringen. Jenseits eines Pazifismus, der meint akuten Probleme innerhalb von Armeen mit Träumen von irgendwann, zukünftiger, Abschaffung aller Armeen begegnen zu können, ist das Schaffen von Möglichkeiten diese Probleme ohne Angst um die eigene Karriere thematisieren zu können der einzige verantwortungsvolle Weg damit umzugehen und zivilisiertere Verhältnisse innerhalb der Armee, auch zum Wohle der Gesamtgesellschaft, zu schaffen. Eine besonders verantwortungsvoll geführte Demokratische Armee wäre wahrscheinlich eine, aus der besonders viele Skandale an die Öffentlichkeit dringen. Ganz einfach weil sie es zulässt, während etwa die iranischen Revolutionsgarden skandalfrei bleiben, weil sie die Thematisierung von Skandalen eben nicht vorsehen.
Insofern sollte Von der Leyen auch der Vorwurf, „die Soldaten vertrauen von der Leyen nicht“, egal sein, solange der sich auf „führende Soldaten“ und „das Sprachrohr der Soldaten, de[n] Bundeswehrverband“ bezieht. Deren Meinung ist bezüglich der angesprochenen Probleme in etwa so wichtig wie die Meinung des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall für ein Stimmungsbild unter Bauarbeitern. Tatsächlich zählen, wenn es um Übergriffe, Mobbing und ähnliches geht gerade die, die, noch nicht gefestigt in ihrem Korpsgeist, prädestiniert sind, Opfer des Mobs zu werden.
Eine Armee wird, solange eine Welt ohne Armeen kaum denkbar scheint, ihre Abgründe mit sich herumschleppen. Es ist ein Fortschritt, wenn sich wenigstens jemand traut, die offen anzusprechen.
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