Auferstanden aus Ruinen

Im Fußball verrückten Brasilien gilt der „Mineiraco“, der „Schock von Mineirao“ als nationale Katastrophe. Zwar war die 1:7-Niederlage gegen Deutschland nur Fußball, dennoch hat diese Demütigung eine Nation in ihren Grundfesten erschüttert. Umso größer ist die Euphorie, da die Selecao in Südamerika inzwischen wieder dominant ist. Der Erfolg hat einen Vater: Trainer Tite, der der Mannschaft ihre südamerikanische Seele zurückgeben hat.


Wenn morgen im kriselnden Brasilien ein neuer Präsident gewählt würde, dann hätte Adenor Leonardo Bachi alle Chancen, mit überwältigender Mehrheit zum Staatschef gekürt zu werden. Nur: Senhor Bachi ist kein Politiker und will auch keiner werden. Außerdem kennt den Mann kaum jemand unter seinem richtigen Namen, alle nennen ihn nur: Tite. Und Tite hat eine ganz andere Mission: Make Selecao great again! Er soll die ruhmreihreiche brasilianische Fußballnationalmannschaft, die im Juli 2014 in den Trümmern einer 1:7-Niederlage gegen Deutschland lag, zu altem Glanz führen. Am besten noch zum Titel bei der Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Ein entscheidender Schritt dazu wurde jetzt geschafft. Als erstes Team nach dem Gastgeber konnte sich die Selecao für die nächste WM qualifizieren – und das extrem souverän in der nicht einfachen Südamerika-Gruppe mit dem ewigen Rivalen Argentinien, den bärenstarken Chilenen um Bayern-Star Arturo Vidal und den aufstrebenden Kolumbianern um James Rodriguez von Real Madrid.

Der Durchmarsch durch die Todesgruppe ist umso beeindruckender, da Tite noch kein Jahr im Amt ist. Die Mannschaft übernahmen er, als sie – völlig außer Form – auf Platz sechs der kontinentalen Tabelle lag. Ein Rang, der nicht zur Teilnahme an der Weltmeisterschaft berechtigt hätte. Was danach passierte, das erscheint den leicht euphorisierbaren Brasilianern buchstäblich wie ein Wunder – sozusagen als die zweite Auferstehung seit Jesus Christus. Acht Siege in Folgen gelangen der Selecao. Insbesondere die Abwehr, die sich bei der WM 2014 innerhalb weniger Tage zehn Tore von den Deutschen und den Niederländern einschenken ließ, erwies als äußerst stabil. Nur ganze zwei Gegentore setze es, eines davon beim 2:1 gegen Kolumbien, das andere beim 4:1 gegen Uruguay.

Blitzstart in der Todesgruppe

Besonders der souveräne Sieg beim Angstgegner Uruguay, im legendären Centenario-Stadion von Montevideo, gab der Begeisterung einen Schub. Erst einmal zuvor konnte eine brasilianische Mannschaft dort ein Qualifikationsspiel gewinnen. Nun ist dieselbe Selecao, die 2014 die größte anzunehmende Schmach erleben musste, plötzlich wieder der Liebling einer ganzen Nation und selbsternannter WM-Favorit. Die gute Stimmung wird noch dadurch potenziert, dass sich Dauerkonkurrent Argentinien momentan mehr als schwer tut. Das Ticket nach Russland haben die Gauchos längst nicht in der Tasche. Gegenwärtig würde den Argentiniern ein riskantes Play-Off gegen ein Team aus der Ozeanien-Gruppe, mutmaßlich Neuseeland, drohen. Noch bei der WM in Brasilien sangen argentinische Fans Spottlieder über die miserabel kickenden Gastgeber. Das saß tief.

Wie hat es Tite geschafft, aus einer Mogeltruppe voller Selbstzweifel ein Erfolgsteam zu machen? Viele Experten begründen dies in erster Linie mit der Rückkehr zum schönen Spiel, dem „jogo bonito“, das Tites technokratischer Vorgänger Carlos Dunga, ein Deutschland-Fan, der lange beim VfB Stuttgart kickte, und zuvor Taktikfuchs Felipe Scolari der Selecao ausgetrieben hatten. Unter dem aktuellen Coach dürfen die Brasilianer wieder, frei von allzu viel taktischen Zwängen, zaubern, Kurzpässe spielen und einen riskanten Kick wagen. Kurz gesagt: Brasilianer dürfen wieder wie Brasilianer spielen  – und nicht wie Deutsche oder Italiener. Und offenbar hat sich damit die Spielfreude wieder dem früheren Level angenähert.

Rückkehr zum „jogo bonito“

Neben dieser grundsätzlichen Neuausrichtung hat Tite aber auch an vielen anderen, kleinen Rädchen gedreht.  Wie erwähnt konnte insbesondere die Abwehr entscheidend stabilisiert werden, wobei sich insbesondere Marquinhos vom FC Paris Saint-Germain als echter Volltreffer erwies. Zudem ist es dem Trainer gelungen, die Verantwortung auf mehr Schultern zu verteilen. Zwar ist Superstar Neymar vom FC Barcelona noch immer der Dreh- und Angelpunkt des brasilianischen Spiels. Ansonsten zählen aber Routiniers wie Marcelo und Dani Alves ebenso zu den herausstechenden Leistungsträgern wie die England-Legionäre Coutinho oder Roberto Firminho.

Außerdem dürfte es sich positiv auswirken, dass die Selecao nun wieder regelmäßig in den Pflichtspielen der Südamerika-Qualifikation gefordert wird und nicht bloß brotlose Showkämpfe absolviert. Wettkampfroutine und die Freude über hart errungenen Siege sind daher weitere Faktoren, auf die die aktuelle Erfolgswelle gründet. Vor der WM 2014, für die Brasilien als Gastgeber automatisch qualifiziert war, sah das anders aus. Damals tingelte die Mannschaft quasi als „Harlem Globetrotters des Fußballs“ durch die Welt. Im Vorgengrund stand, Sponsorengelder für das Team einzuwerben sowie den Marktwert der Spieler zu steigern – und eben Firlefanz statt ernsthafter Herausforderung. Als die damals vor allem als Showtruppe wahrgenommene Selecao 2013, genau ein Jahr vor der Weltmeisterschaft, den im Grunde unbedeutenden Confederations gewann, hielt sich eine in ernsthaften Wettbewerben unerprobte Mannschaft de facto für unschlagbar. Dabei war das Team so überbewertet wie die T-Aktie im Frühjahr des Jahres 2000. Schon damals war die Abhängigkeit von Neymar frappierend und Mittelstürmer Fred hätte auch in der deutschen Nationalmannschaft des Jahres 2000 mitspielen können, die als „Rumpeltruppe“ in die Analen einging.

WM 2018 wird kein Selbstläufer

Nachdem jetzt die Tristesse wieder den großen Erwartungen gewichen ist, muss sich Tite auch als Euphorie-Bremse beweisen. Denn trotz des souveränen Durchmarschs zur Weltmeisterschaft, gewonnen hat die Selecao noch nichts. Das letzte Mal, dass sich eine brasilianische Nationalmannschaft ähnlich dominierend für eine Weltmeisterschaft qualifizieren konnte, war 1982, ohne Punktverlust und mit nur zwei Gegentoren. Dementsprechend galt das damalige Jahrhundertteam um Zico, Falcão, und Dr. Sócrates als haushoher Favorit für das Turnier in Spanien. Allerdings schied diese Übermannschaft, ziemlich ruhmlos, bereits in der Zwischenrunde aus. Weltmeister wurden die humorfreien italienischen Defensivspezialisten – in einem Finale gegen eine deutsche Alibitruppe, die nur dank eines gefühlten Nichtangriffspaktes mit den österreichischen Nachbarn im Skandalspiel von Gijon die Vorrunde überstand.

Vielleicht sollte Tite deshalb in den nächsten Monaten ein Schild „Memoriam 1982“ in die Kabine hängen, um seine zweifellos starke Mannschaft vor neuen gefährlichen Höhenflügen zu warnen. Argentinien, Chile, Kolumbien & Co. mögen stark sein. Die dicksten Brocken warten indes erst in Europa. Der bärenstarke EM-Zweite Frankreich etwa, der über eine bemerkenswerte Breite an internationalen Stars verfügt und mit Antoine Griezmann über einen Spieler, der in engen Matches allein den Unterschied ausmachen kann. Oder Italien, das man eigentlich immer auf der Rechnung haben muss und das seine Qualifikationsgruppe gewohnt cool beherrscht. Mancher meint auch, dass England endlich wieder über eine junge hungrige Truppe verfügt, der mehr zuzutrauen ist, als spätestens nach dem Viertelfinale die Rückreise anzutreten. Und dann ist da noch die „Black Box“ Russland. Ein Team, das zwar über Heimvorteil verfügt, dessen Spieler aber beinahe alle in der heimischen Liga aktiv sind und das, genau wie die Brasilianer 2014, über keine echte Wettkampfpraxis verfügt. (Dass ich der DFB-Elf die Titelverteidigung nicht zutraue, ist eine andere, längere Geschichte, die zu erzählen, hier den Rahmen sprengen würde.) Dennoch: Gegen all diese Mannschaften dürften sich die Brasilianer schwerer tun, als gegen die aktuelle Konkurrenz in Südamerika.

Neymar überragt immer noch alle

Zumal Tite zwar die Breite des Kaders gestärkt hat, Megastar Neymar aber weiterhin alles überragt. Ob die Selecao seinen Ausfall oder auch nur eine Formkrise inzwischen besser verkraften könnte, als dies nach seiner Verletzung im Viertelfinale gegen Kolumbien 2014 der Fall war, steht in den Sternen. Daher meine Prognose: Mit einem starken Neymar ist Brasilien alles zuzutrauen, ohne Neymar oder mit einem formschwachen deutlich weniger. Wenn es Tite schafft, aus einer „Selecao minus Neymar“ immer noch eine große Nummer zu machen, dann hat er wirklich nach Jesus Christs die zweite Wiederauferstehung nach Jesus Christus geschafft. Und wer weiß, vielleicht bauen sie auch ihm dann eine überlebensgroße Statue in Rio de Janeiro.

Andreas Kern

Der Diplom-Volkswirt und Journalist arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Kern war unter anderem persönlicher Referent eines Ministers, Büroleiter des Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt sowie stellvertretender Pressesprecher des Landtages. Er hat nach einer journalistischen Ausbildung bei einer Tageszeitung im Rhein-Main-Gebiet als Wirtschaftsredakteur gearbeitet . Aufgrund familiärer Beziehungen hat er Politik und Gesellschaft Lateinamerikas besonders im Blick. Kern reist gerne auf eigene Faust durch Südamerika, Großbritannien und Südosteuropa.

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